Eigentlich hätte sie eine Karriere als Juristin machen sollen. Doch während eines halben Jahrs im Ausland lernte Nathalie Schaller Schicksale von zwangsprostituierten Frauen und Kindern kennen. Diesen Menschen wollte sie beim Ausstieg helfen – und gründete in Stuttgart ein öko-faires Modelabel. Nathalie Schaller gehört zu den Referenten beim Willow-Creek-Leitungskongress von 25. – 27.  August in Leipzig. Im Folgenden Auszüge aus ihrer Lebensgeschichte.

 

Von Nathalie Schaller

 

Nach meinem Jurastudium verbrachte ich eine Zeit im Ausland bei „Jugend mit einer Mission“ in Australien. Nach drei Monaten stand der sogenannte Outreach an. Wir sollten uns nun mit Brennpunktthemen in anderen Ländern und völlig anderen Milieus, als wir sie aus unserem Heimatland kannten, auseinandersetzen. „Nathalie, du bist in Gruppe zwei. Ihr werdet unter anderem einen Monat in Kambodscha verbringen und dort auch ein Hilfsprojekt für Opfer von ‚sex trafficking‘ kennenlernen“, sagte unser Leiter Andrew.

Das musste ich erst einmal verdauen. Kambodscha war ein komplett weißer Fleck auf meiner Landkarte. Und von sex trafficking hatte ich noch nie etwas gehört. Ja, ich wollte Ungewöhnliches erleben, etwas Neues sehen, und war auch froh, dass ich ein Land kennenlernen würde, in das ich von allein wohl nicht gereist wäre. Aber diese Ansage überforderte mich nun doch etwas.

 

Sex mit Dreijährigen

 

Mit einer Mischung aus Neugier und Widerstand lasen wir Bücher und schauten Dokumentationen darüber an, was sich hinter sex trafficking verbarg: Menschenhandel und Zwangsprostitution. Ich lernte, dass an manchen Orten in Thailand und Kambodscha nicht nur erzwungene Prostitution, sondern auch sexuelle Ausbeutung von Kindern ein alltägliches Geschäft ist. Schon Fünf-, ja sogar Dreijährige wurden zu diesem Zweck entführt oder gekauft. In winzigen Zimmern über Jahre festgehalten, wurden die Mädchen jeden Tag rund um die Uhr von den „Kunden“ und den Zuhältern missbraucht. Ein Mädchen wurde für einen der Berichte gefragt, ob sie wüsste, wie oft sie zum Sex gezwungen worden war. Die erschütternde Aussage: „Es waren sechs Jahre. Ich schlief mit tausend Männern pro Jahr.“

In einer anderen schockierenden Szene besuchten die Filmemacher ein Dorf in Kambodscha, in dem der Verkauf von Kindern ein völlig normaler Erwerbszweig ist. Sie ließen sich „aufklären“: Eltern betrachten es hier als ein Zeichen von Liebe zu ihren Kindern, wenn sie sie nicht in die Großstadt verkaufen, sondern es ihnen ermöglichen, vor ihrer Haustüre und damit sozusagen unter Aufsicht missbraucht zu werden.

Sklaverei im 21. Jahrhundert

 

Mein Gerechtigkeitssinn hämmerte gegen meine Magenwände. Das Fenster zu einer hässlichen Wirklichkeit war aufgestoßen worden. Ich musste lernen, wie eng das mit Menschenhandel verknüpft ist und dass beides letztlich in Fälle von Sklaverei mündet. Und das im 21. Jahrhundert!

Eine weitere Dokumentation zeigte, wie ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation sich, als Freier getarnt und mit versteckter Kamera ausgerüstet, durch ein Bordell führen ließ. Erst wurden ihm Mädchen im Teenageralter gezeigt. Als er fragte, ob es auch jüngere gäbe, wurde er in einen Raum gebracht, in dem er plötzlich von einer Schar kleiner Kinder umringt wurde. Sie waren alle unter zehn Jahre alt und riefen laut durcheinander, was sie gelernt hatten: „Bum bum ten Dollar!“ „Yam yam five dollar!“ Er solle sich eines aussuchen.

Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir alle konnten nicht. Und bis heute fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie es erst den Kindern und jungen Frauen gehen musste. Ich brauchte einige Gespräche mit meiner Mentorin, um diese Eindrücke zu verarbeiten.

 

Eine zündende Idee

 

Nach einer Zeit glühte eine Idee in mir auf: Wie schön wäre es, wenn Frauen, die so etwas durchmachen mussten, lernen könnten zu nähen! Ja, es mochte zunächst nicht auf der Hand liegen, aber für mich war in meiner Biografie das Kleidermachen ein Schritt der Selbstermächtigung gewesen, hatte mich aus Denkgefängnissen befreit: Ich kann nichts richtig. Ich weiß nicht, wofür ich hier bin. Ich produziere nichts von Wert. Ich werde mein Leben lang eine Arbeit tun, die mir nicht gefällt … Konnte nicht etwas von dieser befreienden Kraft auch ins Leben dieser Frauen kommen, die es noch so viel mehr brauchten, gestärkt zu werden?

 

Mit dieser noch rohen Idee und vielen Eindrücken, die mir sagten, dass ich nicht völlig auf der falschen Spur war, flog ich zurück nach Australien. Ich erzählte unserem Leiter Andrew davon, wie mich die Begegnung mit den „survivors“ verletzt und zugleich etwas in mir wachgerüttelt hatte und dass das meinen Lebenslauf nicht unberührt lassen würde. Es war wohl in diesem Moment, dass ich zum ersten Mal meine Vision ganz klar formulierte: „Ich will in Deutschland ein Modelabel gründen, das diesen Frauen langfristig helfen wird.“

 

Start in Indien

 

So bereitete ich mit einem Team neben meiner Arbeit als Juristin die Gründung eines öko-fairen Modelabels vor. Produziert werden sollten die Textilien in Indien. Wir lernten dort die ersten Näherinnen kennen. Sieben Frauen, vier, die aus Zwangsprostitution befreit worden waren, und drei aus anderen sehr schwierigen Verhältnissen waren für das Pilotprojekt eingeladen worden. Sie bekamen seit ein paar Tagen Nähunterricht und Life-Skills-Training. Vorsichtig lächelnd und winkend begrüßten sie uns.

Ich war sehr berührt von diesem bunten Grüppchen von Mädchen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die meisten waren verständlicherweise sehr schüchtern, zwei von ihnen aber auch ganz kess und eine zeigte sogar eine ultrafreche Ader. Da standen sie also vor mir. Euretwegen machen wir das alles, dachte ich, wegen jeder Einzelnen von euch. Zum ersten Mal hatte ich die Frauen als Individuen vor mir, denen wir tatsächlich helfen würden, nicht als kollektive Opfergruppe, deren Zahlen immer in die Tausende oder Millionen ging.

Wir luden die Frauen zu einem kleinen Workshop im Modezeichnen ein, einfach um eine Verbindung zwischen uns herzustellen und gemeinsam kreativ zu werden. Wir zeigten ihnen eine Skizze von einer Frau mit Kleid, die sie nachzeichnen sollten. Zu kompliziert! Also begannen wir ganz einfach: ein Gesicht. Doch auch damit hatten sie größte Probleme. Sie hatten nicht wie wir schon im Kindergarten gelernt, Menschen wahrzunehmen und abzubilden. Wie hatte ich das übersehen können?, erschrak ich über mich selbst. Manche von ihnen hatten vermutlich überhaupt das erste Mal einen Stift in der Hand. Sie kennen das gar nicht, einfach aus Freude etwas zu malen.

Wenn schon so eine Aufgabe eine solche Überforderung bedeutete, wie würde das Nähen erst werden?! In diesem Moment wurde mir bewusst, was diese Frauen aufholen mussten – und was ich selbst aufholen musste! Ich war voller Unternehmenseifer, und der war auch nötig für unsere Gründung. Aber ich musste lernen, menschlicher zu denken, viel menschlicher!

 

„Love sells“

 

Wir hatten nun ein Social Business. Ein Modelabel mit einer humanitären Mission. Und mit einer neuen Botschaft: „Nicht ‚sex sells‘, sondern ‚love sells‘!“ Und wir konnten es kaum erwarten, diese Botschaft mit der ersten Kollektion unter die Leute zu bringen. In den ersten Jahren hieß unser Label „Glimpse“. Dann mussten wir uns neu aufstellen und brauchten auch einen neuen Namen. Noch immer hatten wir eine Mission. Unsere Mode leistete – über Umwege – humanitäre Hilfe, englisch: humanitarian aid. Nach wie vor wollten wir Menschen dazu befähigen, auf einfache und lässige Weise, anderen Menschen in schwierigen Situationen Hilfe zu leisten. Warum also nicht genau diese Hilfe ins Zentrum rücken? Also aid … nun ja, etwas platt, aber ein Anfang. Dann vielleicht, der Lautschrift folgend, „eyd“? Hübsch. Besser. Stylisher. Aber auch kryptischer.

 

„Unnnd“, holte mein Mann Simon nachdenklich aus, „wie wäre es dann gleich in eckigen Klammern?“ Eine Aufforderung, um die Ecken zu denken, Dinge an- und auszusprechen und dadurch etwas Neues zu schaffen. Das gefiel mir. Ich sprach das Kürzel vor mich hin, die Buchstaben wurden lebendig und plötzlich sah ich Worte vor mir: Im E entdeckte ich Empowerment. D stand für unsere Dressmaker. Y öffnete die Marke hin zu einem You. Die Worte formten sich zum Satz, und der sprach mir direkt aus dem Herzen: Empower your dressmaker. „Stärke und ermutige die, die deine Kleidung machen.“ Perfekt! Das war unser Manifest in Kurzform. Treffender hätte ich es mir in tausend Stunden Visionsanalyse nicht zusammenhirnen können. [eyd] konnte vom Stapel laufen.

 

Wie Visionen Realität werden

 

Wie finden Visionen also ihren Weg? Nicht von allein, so viel ist klar. Es ist wichtig, dass wir mutig bleiben! Oder wieder werden. Ich finde nicht, dass, wer Visionen hat, zum Arzt gehen sollte. Sondern am besten geht es direkt zum Kofferpacken und zum Bahnhof oder in die Werkstatt oder in den nächsten Volkshochschulkurs … oder in die Surfschule.

Zum Mut darf außerdem auch gern ein bisschen Wut dazukommen. Mein Ärger wird immer noch groß, wenn ich mal wieder einen Blick in die Statistiken werfe oder irgendeine krasse Doku anschaue und sehe, welche Kreise Menschenhandel auf unserer Welt ziehen darf. Solange die Nachfrage und das Angebot da sind, solange erwachsene, reiche Menschen um den halben Globus fliegen, um Sex mit einem Kind haben zu dürfen, mit einem jungen Mädchen oder Mann oder einer Frau, die in einer gerechten Welt niemals dazu einwilligen würden, und solange es auch nur einen Ort gibt, an dem die Illusion der käuflichen Liebe vermarktet wird – egal ob in Deutschland, Indien oder Thailand; solange müssen sich andere in unserer Gesellschaft um die Opfer dieses Geschäftsmodells kümmern. So einfach ist das.

 

Wo ist das „Unfair Trade“-Siegel?

 

Auch in der globalen Textilindustrie gibt es noch große dunkle Flecken. Es kocht in mir, wenn ich höre, dass noch immer viele Arbeiter und Arbeiterinnen in Billiglohnländern, die einen „ganz normalen Job“ tun wollen, um leben (oder wenigstens überleben) zu können, wie Sklaven behandelt werden. Zum Beispiel in Fabriken in Bangladesch, wo sie – wie mir ein Augenzeuge berichtet hat – jeden Tag auf offenen Lastwagen „angeliefert“, mit Maschinenpistolen bewacht werden und Windeln tragen müssen, weil sie ohne Pausen durchschuften sollen. Und das, um Dinge zu produzieren, die „reingewaschen“ durch undurchsichtige Lieferketten an uns als ahnungslose Komplizen dieser Sauerei verkauft werden.

Warum gibt es eigentlich kein „Unfair Trade“-Siegel? Warum übernehmen unsere Regierungen nicht konsequent Verantwortung für Artikel 1 unserer Verfassung? Die Würde des Menschen ist unantastbar, hieß es dort das letzte Mal, als ich nachgesehen habe. Ganz zu schweigen von Absatz 2, in dem sich Deutschland bekennt „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Man braucht keinen Schrank voller Gesetzesbücher, ein einziger Artikel reicht, um eine To-do-Liste für dringende Veränderungen zu schreiben, die für ein ganzes politisches Leben ausreichen würden.

 

Leidenschaft wecken

 

Ja, man darf wütend darüber sein. Es ist wichtig, dass wir dazu stehen, was wir an Gutem und an Übel von der Welt gesehen und erkannt haben – und davon unsere Leidenschaft wecken lassen. Es braucht nur etwas Mut und man kann die Energie in etwas Positives und vor allem Aktives mitnehmen! Ein bisschen (unschuldiger) Größenwahn und auch Naivität sind dabei manchmal verlangt, sonst hätte ich zumindest mein Projekt nie gestartet.

 

 

 

Buchhinweis mit Cover!:

Nathalie Schaller mit Lennart Will: Der Stoff, aus dem die Freiheit ist. Die Geschichte meines humanitären Modelabels [eyd] – und warum es sich lohnt, mutig zu sein. 208 Seiten, 20 Euro. Adeo (Aßlar) 2021.

 

Internet: www.eyd-clothing.com