Dankbarkeit ist eine Tugend mit erstaunlichen Nebenwirkungen: Menschen kommen in eine positivere Grundstimmung und werden resilienter. Was für den Einzelnen gilt, wirkt sich auch auf Organisationen aus. Chancen und Grenzen beschreibt in diesem Beitrag ein Religionspsychologe und Psychotherapeut.
Von Henning Freund
Was bringt Dankbarkeit? Diese Frage beschäftigt seit rund zwei Jahrzehnten Wissenschaftler und Menschen, die nach einer neuen Kraftquelle für ihr Leben suchen. Motor für dieses neu erwachte Interesse an der „alten“ Tugend Dankbarkeit ist die Bewegung der Positiven Psychologie. Sie erforscht, was Menschen stärkt und zu ihrem Wohlbefinden beiträgt.
Und tatsächlich: Die Liste der wissenschaftlich belegten positiven Auswirkungen von Dankbarkeit ist lang. Sie reicht von Verbesserungen des seelischen Wohlbefindens und der körperliche Gesundheit bis hin zu einer Stärkung des zwischenmenschlichen Zusammenhaltes. Amerikanischen Forscher haben für alle diese Effekte mit dem Begriff „Flourishing“ eine sehr anschauliche Metapher gefunden, die so viel wie Aufblühen oder Gedeihen bedeutet.
Grenzen des Dankbarkeitstagebuchs
Da liegt die Frage nahe, ob diese Wachstumsqualitäten der Dankbarkeit von der individuellen Ebene auch auf das Level von Unternehmen und wirtschaftlicher Produktivität übertragen werden können. Dazu ein kleines Beispiel aus meiner Coachingpraxis:
Ein etwa 40-jähriger Investmentbanker kommt sehr belastet zu mir ins Coaching, nachdem er seinen lukrativen Job durch eine Kündigung verloren hat. Er denkt permanent darüber nach, dass er im Leben versagt habe, und beklagt quälende Grübeleien über seine berufliche Perspektive. Ich bin jedoch überrascht zu hören, dass er schon seit einiger Zeit jeden Morgen nach dem Aufstehen ein Dankbarkeitstagebuch führt. Er habe in einem Managementseminar gehört, dass die Beschäftigung mit Dankbarkeit dazu führe, dass es einem besser gehen könne und man wieder leistungsfähig werde. Um diesen positiven Effekt von Dankbarkeit zu nutzen, notiere er mit einiger Anstrengung und gewissenhaft jeden Morgen alle Dinge, für die er im Leben dankbar sein könne: zum Beispiel sein beruflicher Aufstieg vom Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen zum Akademiker mit eigenem Haus und Familie. Er denke dann vor allem an Dinge, die er bisher geschafft habe. Wenn er diese Punkte notiert habe, gehe es ihm auch kurzfristig besser und seine Stimmung helle sich etwas auf. Doch dieser Effekt verflüchtige sich wieder im Lauf des Tages, und am nächsten Morgen fühle er sich so schlecht wie eh und je.
Warum hat Dankbarkeit in diesem Fall nicht zu einem Aufblühen geführt und einen wahren Produktivitätsturbo gezündet? Der amerikanische Dankbarkeitsforscher Phillip Watkins begründet das in etwa so: Im Kern ist Dankbarkeit ein auf den Anderen fokussiertes Gefühl, und wirkliche Dankbarkeit ist immer auf den Geber ausgerichtet. Dankbarkeitsübungen, die die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst fördern oder nur den Nutzen im Blick haben, müssen zwangsläufig nach hinten losgehen.
Drei Ebenen der Dankbarkeit
Diese kleine Geschichte aus der Coachingpraxis zeigt, dass sich das zunächst sehr vertraut wirkende Konzept Dankbarkeit bei genauerem Hinsehen als überraschend komplex und vielschichtig erweist. Wir können – um im Bild der Vielschichtigkeit zu bleiben – drei Ebenen der Dankbarkeit unterscheiden (vgl. nebenstehende Tabelle).
Mehrebenenmodell der Dankbarkeit
Ebene der Dankbarkeit
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Zentraler Gedanke | Haltung |
1. Dankbarkeit als Wertschätzung | Wahrnehmung und Wertschätzung des Guten im Leben
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Positive Sicht auf die Welt |
2. Kommunale Dankbarkeit | Es gibt einen Geber für das Gute im Leben und ich als Empfänger bin ihm dafür dankbar
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Demut, Ergänzungs-bejahung
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3. Bedingungslose Dankbarkeit | Dank für die guten und auch schwierigen Aspekte des Lebens, die uns wachsen lassen
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Kontemplatives Abstandnehmen |
Die oberste Ebene beinhaltet ein basales Konzept von Dankbarkeit, das in der Wahrnehmung und Wertschätzung des Guten in der Welt besteht. Einfaches Beispiel: Ich stehe am Strand, beobachte den wunderschönen Sonnenuntergang und empfinde ein Gefühl der Dankbarkeit für diesen berührenden Moment. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in dieser Version gar kein Adressat der Dankes benannt ist. Dieser spielt in der nächsten Ebene eine entscheidende Rolle.
Wem danke ich?
Zu der Wahrnehmung und Wertschätzung des Guten kommt auf dieser nächsten Ebene noch die Überzeugung, dass es einen Geber für das Gute gibt und wir selbst nur die Empfänger sind. Um im Beispiel zu bleiben: Ich bin dem Schöpfergott dankbar, dass ich diesen wunderschönen Sonnenuntergang erleben darf. Hier wird die geistliche Dimension von Dankbarkeit deutlich. Dankbarkeit in diesem Sinne ist von dem Bewusstsein getragen, dass wir Gutes empfangen, das wir selbst nicht erschaffen können, sondern uns zuteilwird. Dies geschieht in einem Wissen um unsere Abhängigkeit von Gott (und Anderen). Diese Form wird auch als kommunale Dankbarkeit bezeichnet, die durch gegenseitige Nähe und Vertrauen geprägt ist. Zu dem Gefühl der Dankbarkeit gesellt sich in diesem Fall auch eine Haltung der Demut und Ergänzungsbejahung.
Werfen wir noch einen Blick auf die tiefste Ebene der Dankbarkeit, die auch als eine Dankbarkeit für Fortgeschrittene gelten kann. Deren besondere Herausforderung besteht darin, dankbar in den guten und weniger gute Momenten unseres Lebens zu sein, in der Überzeugung, dass alles zu unserem persönlichen Wachstum beitragen kann. In der Bibel wird dies an mehreren Stellen angedeutet so zum Beispiel in dem herausfordernden Aufruf „Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch“ (1. Thess. 5,18).
Das ist sicher leichter gesagt als getan, und doch steckt in dieser Perspektive eine tiefe spirituelle Weisheit. Der Unternehmer Bodo Janssen hat dafür den Begriff „Bedingungslose Dankbarkeit“ gefunden. Eine Dankbarkeit also, die nicht an die Voraussetzung eines unmittelbaren Benefits gekoppelt ist, sondern von der Überzeugung getragen ist, dass eine persönliche (oder wirtschaftliche) Weiterentwicklung gerade auch durch die schmerzlichen Erfahrungen gefördert wird. Erlebbar wird diese Ebene der Dankbarkeit oft erst durch ein bewusstes kontemplatives Abstandnehmen – vom eigenen Selbst, vom unmittelbaren Gewinn oder im Rückblick auf die eigene Lebens- oder Unternehmensgeschichte.
Wenn Mitarbeiter danken
Während zunächst die Bedeutung von Dankbarkeit für das Wohlergehen einzelner Menschen betont wurde, ist seit wenigen Jahren die Aufmerksamkeit für die Bedeutung für Unternehmen gewachsen. Es konnten zahlreiche positive Auswirkungen auf die Mitarbeiterschaft gezeigt werden wie die Förderung von gegenseitiger Unterstützung in Teams und die Prävention von Burn-out. Interessanterweise unterstützt der Ausdruck von gegenseitiger Wertschätzung auch die Kreativität in Teams und die Bereitschaft von Mitarbeitern, Kraft und Arbeitszeit in das Unternehmen zu investieren.
Unternehmen befinden sich aber nicht immer in ruhigem Fahrwasser, sondern sind durch Marktveränderungen, strukturelle Change-Prozesse und Mitarbeiterfluktuation enorm herausgefordert. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass Dankbarkeit als Teil der Unternehmenskultur zu einer Stabilität in Krisenzeiten beiträgt. Damit kann die Kultivierung von Dankbarkeit in der Belegschaft auch als ein Resilienzfaktor verstanden werden. Ein Unternehmen ist dann resilient, wenn die Mitarbeitenden ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Vertrauens besitzen und ihre Zugehörigkeit als Chance für persönliches Wachstum sehen.
Bei all diesen positiven Effekten sollte nicht vergessen werden, dass bei der Implementierung von Dankbarkeitsinterventionen auch Nebenwirkungen und Risiken zu bedenken sind. Wie im oben skizzierten Coachingbeispiel könnte eine zu starke Betonung der instrumentellen Seite von Dankbarkeit zu Widerständen und Ärger in der Mitarbeiterschaft führen. Falls die Mitarbeiter in ihrer Arbeit zu wenig tatsächliche Gratifikationen erhalten, kann eine Dankbarkeitsaktion im Betrieb schnell als manipulativ oder zynisch verstanden werden. Herrscht Unruhe im Unternehmen, sollte ein geplanter „Appreciation Day“ („Wertschätzungstag“) besser auf das nächste Jahr verlegt werden. Benefits und Risiken von Dankbarkeitsaktionen müssen in jedem Fall sorgsam abgewogen werden.
Wertschätzung ist ein Schlüssel
Der Wirtschaftswissenschaftler Ryan Fehr empfiehlt für die Entwicklung einer Dankbarkeitskultur in Unternehmen einen Einsatz von breitgefächerten Quellen der Dankbarkeit (www.ryanfehr.com). Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang Programme und Interventionen, die gegenseitige Wertschätzung fördern. Der deutsche DAX-Konzern SAP lancierte dazu einen globalen „Appreciation Day“ mit dem Ziel eine Unternehmenskultur der Anerkennung und Wertschätzung aufzubauen. Dazu gehörten eine Vielzahl von Einzelaktionen wie der Austausch von dankbarem Feedback an Kollegen über ein spezielles Onlinetool oder die Vorstellung von Best Practice-Beispielen zur Kultivierung von Wertschätzung.
Etwas kontraintuitiv, aber ungemein wirksam ist der Ansatz, den eigenen Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, anderen zu helfen. Die Erfahrung, andere wirksam zu unterstützen, fördert das eigene Gefühl der Dankbarkeit. Dies kann unternehmensintern oder im Rahmen von sozialen Volunteer-Aktionen verwirklicht werden. Als weitere Säule einer Dankbarkeitskultur nennt Ryan Fehr die Erweiterung der eigenen Skills. Wenn wir unseren Mitarbeitern die Möglichkeit geben, sich selbst und ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln, wird dies zu einer Atmosphäre der Dankbarkeit beitragen. Der aus meiner Sicht wirkungsvollste Ansatz aber ist das lebendige Vorbild der Führungskraft. Wenn der Unternehmer selbst eine dankbare Grundhaltung verkörpert (siehe oben die drei Ebenen der Dankbarkeit) und diese im täglichen Miteinander verkörpert, dann wird dieses Rollenmodell eine ungeahnte Wirkung auf die Mitarbeiter haben.
Dankbarkeit kann Berge versetzen
Dankbarkeit ist kein direkter Produktivitätsturbo, aber ein Baustein einer langfristigen Resilienz eines Unternehmens. Eine rein zweckorientierte Dankbarkeitsintervention kann nach hinten losgehen, aber das Vorbild einer dankbaren Führungskraft – auch im Sinne der bedingungslosen Dankbarkeit – kann Berge versetzen. Dankbarkeit ist wichtig für den zwischenmenschlichen Zusammenhalt im Unternehmen, aber beschreibt auf einer tieferen spirituellen Ebene die Grundhaltung des Menschen gegenüber seinem liebevollen Schöpfer – für Gutes und Herausforderndes.
Henning Freund ist Professor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule Tabor (Marburg) sowie Psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis. Der promovierte Wissenschaftler lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Heidelberg.
Internet: www.praxis-drfreund.de