Innovationen sind seine Leidenschaft: Martin Schwemmle forscht seit Jahren als Wirtschaftswissenschaftler an Zukunftsfragen. Nun hat er mit einem Kollegen ein Buch herausgebracht, das die Kompetenzen herausarbeitet, die es für eine erfolgreiche Zukunft braucht. Im Gespräch mit „faktor c“ erläutert der engagierte Christ Schwemmle, warum Technologie-Kompetenzen überbewertet werden und was Innovation mit Gott zu tun hat.
Herr Dr. Schwemmle, Sie sind Koautor des „Future Skills Navigator“. Warum brauchen wir Ihr Buch, um die Zukunft zu bestehen?
Weil wir in einer Zeit leben, in der ungeheuer viel Dynamik und Unsicherheit herrscht. Viele Menschen reagieren mit Angst und Beharren, weil sie Veränderungen als etwas Negatives wahrnehmen. Es braucht dieses Buch, um das Positive in die Zukunft zu bringen. Der Zuruf von uns Autoren lautet: Wir schaffen das! Wir können gemeinsam an einer positiven Zukunft arbeiten. Und die Future Skills befähigen uns zum neuen Denken und Handeln, das wir dafür brauchen.
Und wie schaffen wir es?
Wir müssen die Dinge sehr viel stärker nutzen, die wir bereits in uns tragen – die menschlichen Fähigkeiten, die wir haben. Sei es Kreativität, seien es unsere Vorstellungen und Träume von einer besseren Zukunft. Aber oft wird das im Laufe des Lebens verlernt. Zum Beispiel in unserem Schulsystem oder in einer Unternehmenskultur, die sagt: „Das machen wir schon immer so.“ Wir haben also ein Potenzial, das es freizulegen gilt. Damit können wir gemeinsam eine bessere Zukunft gestalten. Der Future Skills Navigator strukturiert die Fähigkeiten, die es dafür braucht. Er soll Mut machen, sich der Zukunft als Chance zu stellen und sie nicht als Problem zu sehen. Und konkret zeigen, welche Kompetenzen dafür wichtig sind.
Welche Zukunftskompetenzen fehlen uns denn im Moment am meisten?
Wir unterscheiden vier verschiedene Bereiche: rational, emotional, spirituell, transformational. Was uns heute immer noch fehlt, ist eine gewisse Akzeptanz von Emotionalität. Alle reden von Emotionaler Intelligenz, aber wie oft hören wir auch auf unser Bauchgefühl bei Business-Entscheidungen und wie sehr spielen andere Menschen dabei eine Rolle? Wir sehen auch großen Nachholbedarf bei spirituellen Future Skills. Da geht es darum, dass ich in Beziehung zu mir selbst komme, aber auch zu anderen und zu etwas Größerem in Beziehung trete. In Unternehmen sind das oft ein Purpose oder eine positive Zukunftsvision. In diese Richtung besteht eine große Sehnsucht bei vielen Mitarbeitenden, und dennoch greifen das die meisten Unternehmen noch viel zu wenig auf.
Emotionale Bindungen aufbauen
Wofür braucht es mehr Emotionalität? Soll ich bei Preisverhandlungen auch mal weinen können?
Emotionalität heißt mehr als nur, Emotionen zu zeigen. Es heißt zuerst einmal zuzulassen, dass wir als Menschen nicht nur rationale Wesen sind. Was macht eigentlich das Menschliche aus in einer Welt, in der wir es mit Technologie, Maschinen und Künstlicher Intelligenz zu tun haben? Menschen können im Gegensatz zu Maschinen emotionale Bindung aufbauen. Ich nehme dann meinen Verhandlungspartner nicht nur als Mittel wahr, meine Ziele zu erreichen, sondern als Mensch. Und als solch emotionales Wesen baue ich auch Beziehungen zu anderen auf und agiere im Team.
Nun haben sie insgesamt 64 Zukunftskompetenzen aufgeschrieben. Kann denn jeder jede Kompetenz entwickeln?
Grundsätzlich ja. Die Frage ist aber, ob jeder in jeder Kompetenz Vollprofi sein muss und die höchste Stufe erreichen muss, also das absolute Expertenlevel. Da glauben wir: nein. Es geht nicht darum, dass wir diese Kompetenzen alle individuell haben, sondern dass wir sie gemeinsam als Team, als Gesellschaft besitzen, damit wir gemeinsam zukunftsfähig sind. Jeder hat bereits individuellen Stärken und Potenziale, und gemeinsam decken wir dann alle Future Skills ab.
Im Buch steht ein wunderbares Wort: Wir brauchen „Nebelkompetenz“. In einer Umgebung mit 1.000 unbekannten Faktoren – wie helfen da Zukunftskompetenzen?
Zum einen geben Sie uns den Mut, überhaupt loszulaufen, obwohl da Nebel ist und der Weg nicht ganz klar vor uns liegt. Keine Entscheidung zu treffen und stehen zu bleiben, wäre ja auch eine Entscheidung. Aber das bringt uns in der Regel nicht weiter. Deshalb stärken die Zukunftskompetenzen unser Growth Mindset, dass wir darauf vertrauen, dass wir uns weiter entwickeln können und so Herausforderungen annehmen und mutig den ersten Schritt machen. Zum anderen brauche ich gerade im Nebel eine Art Navigationssystem, einen Leitstern, ein Ziel, das mich antreibt. Die starke Vision einer positiven Zukunft zu erträumen oder einen starken Purpose zu entwickeln, gibt uns Orientierung zu gewinnen. Schließlich helfen uns Future Skills dabei, uns im Nebel zusammen mit anderen auf den Weg zu machen, hinter eine gemeinsame Vision zu stellen und dann auch gemeinsam in ihre Richtung zu schreiten.
Neu und anders lernen
Ist das alles nur ein Thema für Unternehmen?
Eindeutig nein. Jede und jeder von uns braucht Future Skills, um eine positive Zukunft mitgestalten zu können. Unternehmen sind vielleicht derzeit sensibilisierter als andere Organisationen, beispielsweise wegen des Fachkräftemangels. Auch aus dem Bildungsbereich haben wir viele Nachfragen, weil die Verantwortlichen merken, dass das Schulsystem in dieser Form wenig auf die Zukunft ausgerichtet ist. Wir müssen auch neu und anders lernen. Am Ende betrifft es also uns alle, wie wir uns fit für die Zukunft machen.
Was ist heute die am stärksten unterschätzte Kompetenz?
Vermutlich das systemische Denken. Also zu verstehen, in welchen Systemen wir uns bewegen und wie alles zusammenhängt. Das kann das System Natur, Klima, Umwelt sein; es kann das System Gesellschaft sein; es kann das System Unternehmen sein. Überall bestehen so viele Wechselwirkungen, die wir nicht auf dem Schirm haben. Da liegt ein Frachter im Suezkanal quer, und über Monate sind globale Logistikketten gestört. Systemdenken heißt auch, sensibel für den Kontext zu sein. Wir sehen irgendwo etwas, finden es gut und wollen es in einen anderen Bereich übertragen. Nur dort funktioniert es dann nicht mehr, weil wir uns eben in einer anderen Umgebung befinden. Die schönste Pflanze geht ein, wenn sie ins falsche Klima umgetopft wird.
Und die am stärksten überschätzte Kompetenz?
Das sind die technologischen Skills, insbesondere das Verständnis von Digitalisierung. Natürlich müssen wir verstehen, was da passiert und welche Chancen sich ergeben. Wir müssen aber nicht die Technologie bis ins kleinste Detail verstanden haben. Die Fragen stellen sich vielmehr auf einer ganz anderen Ebene, nämlich: Wo wollen wir mit dieser ganzen Technologie hin? Was machen wir mit den Freiräumen, die uns die Digitalisierung ermöglicht? Die Gefahr ist also, dass man vor lauter Technologie die Warum-Fragen übersieht. Wir haben uns den Spaß erlaubt, die Künstliche Intelligenz zu fragen: Welche Fähigkeiten braucht die Menschheit, um überlebens- und zukunftsfähig zu sein? Die Antwort war eine Fehlermeldung: „Bitte rufen Sie den Kundenservice an“. Ich vermute, das war ein technisches Problem, aber es schien auch ein wenig symptomatisch. Diese Frage überfordert die KI. Spielregeln und Rahmenbedingungen zu setzen und zu beantworten, was Menschsein in einer Welt zunehmender Technologie heißt, darum geht es.
„Gott ist kein Controller“
Das Buch spricht auch über den spirituellen Bereich, greift hier aber Themen auf, die man herkömmlich dort nicht unbedingt verortet hätte. Was ist zum Beispiel an Führungskompetenz spirituell?
Tatsächlich haben wir den Begriff sehr weit definiert. Bei Spiritualität geht es um Verbundenheit. Es geht darum, wie ich mich in Beziehung setze. Zu mir, zu anderen, zu etwas Größerem. Da gehört dann eindeutig Führung mit hinein.
Welche Rolle spielt der christliche Glaube für die Zukunft?
Es gibt einen schönen Buchtitel, der lautet: Gott ist kein Controller, sondern ein Kreativer. Die Bibel beginnt mit dem kreativen Schaffensakt, mit einem Gestalten, mit einem Vorwärtsschreiten. Die ganze Schöpfung, ja die ganze Bibel ist voller Veränderung und Transformation. Deshalb ist es für mich ein grundlegendes Motiv des Glaubens, nicht im Status-quo zu verharren, sondern dass da Neues passiert. Dazu passt auch der Bibelvers, der auf meinem Schreibtisch steht: „Gott hat uns nicht gegeben, einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Tim 1,7). Das drückt für mich die Haltung aus, die wir auch in unserem Buch kommunizieren möchten. Nicht lähmen lassen, sondern besonnen und mit Liebe zu den Menschen vorwärtsgehen. Der Glaube kann also ein wesentlicher Bestandteil für die Zukunftsfähigkeit sein. Er gibt uns Antrieb und Fixsterne.
Haben Christen auch Defizite bei den Zukunftskompetenzen?
Christen haben unterm Strich wahrscheinlich mehr Kompetenzen im Zwischenmenschlichen und Spirituellen. Auch auf die Frage, was sie antreibt und von welcher Zukunft sie träumen, haben viele Christen eine Antwort parat. Leider wird das manchmal stark getrennt von der Businesswelt. Hier sollten Christen ihren Glauben mit ihrem wirtschaftlichen Handeln verbinden. Wer, wenn nicht Christen, sind Experten in Sachen Menschlichkeit?
Manchmal sind wir als Christen aber auch sehr festgelegt und machen gar keinen Gebrauch von der Freiheit, die der Schöpfer uns gegeben hat, um beispielsweise neue Dinge auszuprobieren. Wir halten zu stark fest an Traditionen, am Überlieferten. Es geht ja gar nicht darum, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es geht darum, wie man einen Schritt weiterkommt, gleichwohl man den Kern natürlich behalten will und muss.
Kernige Anglizismen
Das Buch ist vollgepackt mit Anglizismen. Ist Englisch die 65. Zukunftskompetenz?
Sicher nicht. Wir haben uns an verschiedenen Stellen für englische Begriffe entschieden, um klarzumachen, dass wir von einem neuen Konzept, einem Modell sprechen und nicht nur irgendwelche Begriffe zusammengestellt haben. Dass wir also etwas ganz Konkretes meinen, dem wir ein entsprechendes Etikett geben. Bei manchen Begriffen ginge zudem die Kernigkeit verloren, wenn man sie ins Deutsche übersetzt.
Wenn nun jemand entdeckt, dass ihm ein Skill fehlt – reicht da das Buch, um es zu entwickeln?
Zunächst geht es tatsächlich darum, wahrzunehmen, was einem an Zukunftskompetenzen fehlt. Und auch darum, was man bereits ganz gut beherrscht. Im Buch haben wir erste Übungen skizziert, mit denen ich einen Schritt vorwärts machen kann. Auf der begleitenden Internetseite stehen für jede einzelne Kompetenz weitere Übungen zum Herunterladen zur Verfügung. Wir wollen ja genau diesen Transfer schaffen, ganz im transformationalen Sinne der Future Skills. Trotzdem gilt: Diese Übungen sind nur die halbe Miete. Die richtige Haltung, das Mindset, über das wir bereits gesprochen haben, das andere.
Agiler werden
Welche Zukunftskompetenzen vermissen Sie in unserer Bewegung „faktor c“, die Sie ja seit vielen Jahren kennen und mitgestalten?
Soweit ich das sehe, ist der Verband ausbaufähig bei „Innovation und Organisation“. Ich sehe Luft nach oben zum Beispiel bei unseren Veranstaltungen und den digitalen Formaten. Das Konzept „Working out Loud“ erobert die deutschen Unternehmen. Das ist nichts anderes als ein säkularer Hauskreis. Wieso springen wir da nicht auf? Und die Organisation müsste agiler werden. Wir machen damit seit vielen Jahren sehr gute Erfahrungen bei unserem Young Professionals impact weekend von „faktor c“.
Wir danken für das Gespräch.
Dr. Martin Schwemmle ist Innovationsforscher und Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet zudem als Speaker, Trainer und Berater. Mit seinem Koautor Dr. Arndt Pechstein hat er „The Future Company“ gegründet, um Unternehmen zukunftssicher zu machen (www.thefuturecompany.eu). Martin Schwemmle leitet seit zehn Jahren das impact weekend für Young Professionals von faktor c.
Auf www.futureskillsnavigator.de gibt es weitere Informationen zum Thema und 64 Übungen zum kostenlosen Download.