Menschenwürde und soziales Engagement kann man messen. Das jedenfalls verspricht die Gemeinwohl-Ökonomie, zu der sich weltweit eine wachsende Zahl von Organisationen verpflichtet. Der Spezialgerüstbauer Walter Stuber hat das Projekt in Angriff genommen. Das Handbuch dazu musste er erstmal für Handwerker übersetzen lassen.

Von Marcus Mockler

Wer Gemeinwohl-Ökonomie hört, denkt gewöhnlich zuerst an Umweltschutz, Nachhaltigkeit und soziales Engagement. Bei Walter Stuber war das anders. Der 63-jährige Geschäftsführer einer Firma für Spezialgerüstbau im mittelsächsischen Roßwein merkte auf, als er las, dass die Sparda-Bank in München durch ihre Gemeinwohlorientierung als Arbeitgeber sehr viel interessanter geworden sei – mit Hunderten Bewerbungen junger Leute. Angesichts des Fachkräftemangels gerade im Baugewerbe wirkte das auf Stuber wie ein Schlüssel für eine bessere Positionierung seines Unternehmens.

Nicht, dass ihm die inhaltlichen Schwerpunkte der Gemeinwohl-Ökonomie unbedeutend erschienen. „Enkeltaugliches Wirtschaften ist mir wichtig“, sagt der evangelische Christ aus Württemberg, den es nach Sachsen verschlagen hat. Doch dazu gehört für ihn auch, mit einem herausragenden Team zusammenzuarbeiten, um gute Wirtschaftsziele überhaupt erreichen zu können. Und diese Verheißung erkannte er im Umsetzen der Kriterien, die für die Gemeinwohl-Ökonomie gelten.

Maximal 1.000 Punkte

Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist eine vergleichsweise junge Idee. Als Startschuss wird die Veröffentlichung des gleichnamigen Buchs von Christian Felber im Jahr 2010 angesehen, einem österreichischen Attac-Aktivisten. Im Mittelpunkt stehen Kriterien für Unternehmen, Kommunen und Institutionen, durch ihr wirtschaftliches Handeln das Gemeinwohl zu fördern. Das geschieht durch ökologisches Arbeiten, einen solidarischen Umgang mit Mitarbeitern und Geschäftspartnern und Teilhabe des Teams an Entscheidungen.

Solche Ideen sind an sich nicht neu. Innovativ ist es, abstrakte Begriffe wie Menschenwürde und Gerechtigkeit mit knallharten Zahlen zu unterlegen. Genau das leisten Organisationen, die sich zur GWÖ verpflichten. Sie erstellen eine Gemeinwohlbilanz, die verschiedenste Seiten des Handelns durchleuchtet und nach einem Punktesystem bewertet. Maximal 1.000 Punkte sind möglich.

Wählerisch werden

Walter Stuber besorgte sich zunächst das GWÖ-Handbuch, kam aber schnell an seine Grenzen. Zu kompliziert, eher für Studierte und nichts für Handwerker, so sein Eindruck. Deshalb setzte er sich mit einem Team Externer zusammen, die das anspruchsvolle Regelwerk in einfache Sprache übertrugen. Und dann ging‘s los mit einer schonungslosen Selbstanalyse.

Was sofort auffiel: Der Umgang mit Geld verlangte Nachbesserungen. Zum einen hatte man zu hohe Schulden im Verhältnis zum Gewinn. Zum anderen kümmerten sich die Banken, mit denen die Firma zusammenarbeitete, viel zu wenig um das Thema Nachhaltigkeit. „Wir waren damals noch nicht so wählerisch“, räumt Stuber ein.

Bessere Verträge fürs Team

Aber auch die Fluktuation unter den Mitarbeitern und die Krankenstände lagen zu hoch. Hier konnte die Geschäftsführung schnell aufholen. Zum einen gab es mehrere Umfragen im Team, um möglicher Unzufriedenheit auf den Grund zu kommen. Zum anderen wurden die Verträge arbeitnehmerfreundlicher gestaltet. Auch bei der Bezahlung legte die Firma gleich nach. Die Fahrzeit zur Baustelle wurde nun vollständig als Arbeitszeit gewertet und entlohnt – vorher waren es nur 50 Prozent gewesen.

Stuber und sein Kompagnon Dirk Eckart fühlen sich in ihrer Region noch als einsame Streiter. „Für unsere Kollegen im Baugewerbe sind wir Spinner“, sagt der 63-Jährige. Er selbst sieht sich eher als Pionier. Weltweit kann er auf eine wachsende Zahl von Gleichgesinnten zählen. Inzwischen unterziehen sich nach Angaben des 2018 gegründeten Internationalen Bündnisses für Gemeinwohl-Ökonomie mit Sitz in Hamburg knapp 1.100 Unternehmen einer Gemeinwohl-Bilanz. Es gibt über 170 Regionalgruppen und 44 Städte und Kommunen, die mitmachen.

Frustrierender Punktestand

Bei ihrer ersten Bilanz erreichte Stubers Firma Gemeinhardt Service GmbH insgesamt 377 von 1.000 Punkten. Zwei Jahre später waren es dann 375. „Wir waren richtig frustriert“, kommentiert der Geschäftsführer im Rückblick den Verlust von zwei Punkten. Er ließ sich dann aber von einem Experten sagen, dass das kleine Unternehmen mit 37 Mitarbeitern – davon 10 Auszubildende – schon extrem gut aufgestellt sei.

Die Geschäftsleitung tüftelt unermüdlich daran, die GWÖ zu verbessern. Derzeit stehen innovative Arbeitszeitmodelle im Mittelpunkt. Stuber hat erst im vergangenen Jahr zwei hervorragende Gesellen verloren, denen der Einsatz auf Montage zu zeitaufwändig war. Auch wünschten sich nach der Corona-Pandemie mehr Mitarbeiter, von zu Hause aus zu arbeiten. Die Firma versucht, den Bedürfnissen entgegenzukommen. „Geld ist nicht mehr alles“, weiß Stuber. Die Arbeitsbedingungen müssen ebenfalls stimmen. Deshalb wird das Team nun auch täglich mit Essen auf wiederverwendbarem Geschirr versorgt.

Messbarkeit lohnt sich

Für die Umwelt setzt das Unternehmen Obstbäume. Außerdem gibt es einen Vertrag mit drei Schulklassen, mit denen vier Mal im Jahr in Sachen Nachhaltigkeit etwas unternommen wird. Das Gute an der zahlenorientierten GWÖ ist: Es lässt sich schnell erkennen, was funktioniert und was nicht. So hatte die Firma 10.000 Euro in die Hand genommen, um den Auftritt bei Instagram durch attraktive Fotos aufzuwerten. Mehr Follower brachte das nicht und auch nicht mehr Bewerbungen, weshalb das Social-Media-Konzept nun grundlegend überarbeitet wird.

Seinen jährlichen Motivationsbooster in Sachen GWÖ holt sich Stuber auf der Konferenz „Sinn macht Gewinn“. Dort sprechen Experten zu den großen und alltäglichen Herausforderungen, nachhaltig und sozial zu wirtschaften. Und dort vernetzen sich Gleichgesinnte.

Stuber, der auch Mitglied bei „faktor c“ ist, vermisst bei dem Thema ein wenig Kirchen und Christen. Obwohl er in den meisten GWÖ-Zielen biblische Werte wiedererkennt, sieht er kaum christliche Organisationen, die das Thema vorantreiben. Seiner Ansicht nach sollte sich jeder Unternehmer, der an Jesus Christus glaubt, der GWÖ verschreiben.

„Samenkörner streuen“

Kritik von Unternehmerverbänden an der GWÖ hält Stuber für überzogen. Das Etikett „bürokratisch und ineffektiv“ passt seiner Ansicht nach nicht. Wenn man die Kriterien verstanden habe, sei es in einer gut geführten Firma einfach, weil die erforderlichen Zahlen in der Regel bereits vorlägen.

Auch das Argument, GWÖ könne nur international funktionieren und bringe im Alleingang nichts, lässt der Geschäftsführer nicht gelten. „Man muss Samenkörner streuen“, sagt er. Dieser Samen gehe dann langsam auf. Doch müsse einer anfangen, sonst verändere sich nichts.

www.spezialgeruestbau.de
www.ecogood.org
www.sinnmachtgewinn.de

 

GWÖ – ein alternatives Wirtschaftsmodell?

■ Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist ein alternatives Wirtschaftsmodell. Im Fokus unternehmerischen Handelns steht nicht Gewinnmaximierung, sondern es geht um ethische Faktoren wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Solidarität. Als Lenkungsinstrument könnten laut GWÖ Unternehmen mit Gemeinwohl-Bilanz Steuererleichterungen bekommen oder bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt werden.

■ Die Grundidee findet sich schon im deutschen Grundgesetz, Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“

■ Für die Gemeinwohl-Bilanz werden 20 Bereiche untersucht und in eine Matrix übertragen. Kriterien sind Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Mitbestimmung bei Lieferwegen, in der eigenen Belegschaft, gegenüber Kunden sowie mit Blick auf Finanzgebaren und das gesellschaftliche Umfeld.

■ Maximal lassen sich in der Gemeinwohl-Bilanz 1.000 Punkte erreichen. Es gibt aber auch Minuspunkte, etwa für Preisdumping, menschenunwürdige Zustände bei Zulieferern oder die Verhinderung eines Betriebsrats.

■ Von einigen Wirtschaftswissenschaftlern wird die GWÖ kritisch gesehen. Verschiedentlich werden dem Modell Bevormundung, mangelnder Wettbewerb und fehlende unternehmerische Anreize durch Begrenzung von Privatvermögen und Verdienst vorgeworfen. Professorin Ulrike Reisach von der Hochschule Neu-Ulm zweifelt an, dass die GWÖ sich für Staaten eignet, „die großen Nachholbedarf bei der Deckung der Grundbedürfnisse haben“.

■ Unterstützung findet die Idee in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und beim „Club of Rome“.