Radikal einsam

11.02.2022

„Radikal einsam“. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Vereinsamung und radikalem Denken und Handeln? Kürzlich war zu lesen, wer vor allem dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) Hassbriefe schreibe: meist Männer über 50, die alleinstehend seien. Je nach Perspektive ausgelöst oder verschärft wird der Prozess der Vereinsamung und seiner Folgen dadurch, dass reale Vernetzung und damit echte Gespräche mit Rede und Gegenrede abnehmen, weil der Organisationsgrad nahezu überall zurückgeht: in Vereinen, Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften. Von den privaten Beziehungen in Einzelpersonenhaushalten ganz zu schweigen. Eine weitere Stufe der Vereinzelung ist das Homeoffice, forciert durch Covid-19.

„Radikal einsam“. Der Journalist Nils Minkmar schrieb im Juli 2021: „Als der Alltag noch kommunikativ durch Großfamilie, Firma, Nachbarschaft, Kirche und Gewerkschaften geprägt war, wären die gröbsten historischen Verirrungen noch vor dem Mittagessen ausgeräumt worden. Heute hingegen werkeln viele Menschen an ihren Privatideologien wie einst Modellbauer im Hobbykeller an komplexen Holzschiffen.“ Oft ist keiner mehr da, der sagt: Nein! Großorganisationen dienten auch dem Abgleich von Positionen und vermittelten die hohe Kunst des Kompromisses, so der Journalist weiter. Solche Foren seien rar geworden.

 

„Vollkommen einsam“ oder „radikalisiert einsam“

„Radikal einsam“.  Das kann sowohl bedeuten, dass man „vollkommen einsam“ als dass man auch „radikalisiert einsam“ ist. Schon in frühchristlicher Zeit gab es die sogenannten „Wüstenväter“ oder „Eremiten“. Das waren Christen, die bewusst in die Einsamkeit und Stille gingen, um in einem asketischen Leben, „radikal einsam“, Gott zu suchen. Dabei sind Gedanken und Texte entstanden, die die Jahrhunderte überdauert haben. Das war der Beginn des Mönchtums.

 

Einsam, aber nicht allein

Die Bibel berichtet von beeindruckenden Beispielen von solchen, die Einsamkeit auf Zeit suchten. Sie waren komplett einsam, aber nicht allein. Mose, der bedeutende Führer des Volkes Israel suchte genau wie Jesus das Gespräch mit Gott im Himmel in der Wüste, der Stille, der Einsamkeit. Sie waren Eremiten, aber keine Eigenbrödler. Sie bekamen Antworten auf ihre tiefen Fragen, sie erhielten den Zuspruch der göttlichen Begleitung auf herausfordernden Wegen, sie fanden Orientierung für sich und viele andere Menschen und Völker. Sie wappneten sich in der „radikalen Einsamkeit“ für das gemeinsame Leben. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer stellte in seinem 1939 erschienenen Buch „Gemeinsames Leben“ im Kapitel „Der einsame Tag“ zwei sich ergänzende Thesen zur Wechselwirkung von Einsamkeit und Gemeinschaft auf:

  • Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft.
  • Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.

 

Einsam oder gemeinsam

Ja, wir sehen in unserer Gesellschaft die zerstörerische Tendenz zur „radikalisierten Einsamkeit“, verstärkt durch die aktuelle Pandemie. Menschen, die zu Christus und zu anderen Christen gehören, können in Gesellschaft und Wirtschaft Orientierung sein und geben. Weil sie als Christen sich eben nicht radikalisieren, weil sie in korrigierender und ermutigender Gemeinschaft mit ihrem faktor c, Jesus Christus leben. Ausnahmen bestätigen die Regel. „Denn Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn.“ (1. Kor. 1, 9) Aus dieser Gemeinschaft heraus bauen sie wiederum Gemeinschaften im täglichen Leben und Wirtschaften, die tragfähig, konkurrenzfähig, korrigierend und ermutigend sein können.

 

Michael vom Ende

Geschäftsführer von faktor c, einer Initiative von Christen in der Wirtschaft