„Ein durchsichtiges Manöver“ oder „Die Botschaft des pot lyonais“
14.10.2020
Mein Tipp: Fahren Sie mal nach Lyon, Frankreich. Und besuchen Sie dort in der Altstadt eines der typischen Restaurants, der bouchons. Es lohnt sich! Wer eine Flasche des guten, heimischen Weins bestellt, bekommt eine mit dickem Glasboden, ein „pot lyonais“, ein „Lyoner Topf“. Solch ein pot lyonais ist eine Flasche mit einem sehr dicken Boden und einem Fassungsvermögen von genau 46 Zentilitern. Aber warum ist der Boden so dick?
Ein durchsichtiges Manöver
Im 19. Jahrhundert hatten die „Canuts“, die „Seidenarbeiter“ in Lyon als Lohn Anspruch auf 50 cl Wein, den die Unternehmer bezahlten. Die aber starteten ein durchsichtiges Manöver. Sie reduzierten um ihres eigenen Vorteils Willen die Kapazität einer Flasche von 50 cl auf 46 cl, indem sie den Glasboden dicker machten. Auf diese Weise war es daher möglich, mit einem Liter Wein zwei Flaschen und gleichzeitig das Trinkglas des Besitzers zu füllen. Man schreibt das Jahr 1843 und ein Gesetz: der „pot lyonias“, der Lyoner Topf, ist als Maßeinheit geboren. Ein durchsichtiges, „transparentes“ Manöver – im wahrsten Sinn des Wortes.
Nun ist Transparenz, nicht nur bei Glas, ein hohes Gut. Wir fordern Transparenz des Regierungshandelns, der Personalpolitik der Firma, der angepriesenen nachhaltigen Geldanlage oder des Ablaufs komplizierter Abstimmungsprozesse. Andere fordern von uns Transparenz nicht nur bei strittigen Entscheidungen, bei die Firma betreffenden Planungen oder bei den Maßstäben im Umgang mit Mitarbeitenden. Transparenz ist wichtig für Vertrauen!
Wenn List und Macht dazukommen
Wenn aber zur Transparenz die List und die Macht kommen, dann zieht immer eine oder einer den Kürzeren, dann gibt es Verlierer. So wie bei den Lyoner Firmenbossen. Die Flasche, die als Lohn gezahlt wurde, war voll, die Menge aber geringer. Das war die List, auch wenn sie sehr „durchsichtig“ war. Dazu kam das Gesetz, das ihrem listigen Verhalten noch den seriösen Anstrich gab. Das war die Macht. Alles zusammen machte die canuts zu Verlierern.
Das Verhalten der Lyoner Unternehmer hat sein zweifelhaftes Vorbild – in der Heiligen Schrift. Die Genesis (1. Buch Mose, Kapitel 25) berichtet vom jüngeren Zwilling Jakob, der das ihm entgangene Erstgeburtsrecht von seinem Bruder bekommt. Durch ein durchsichtiges Manöver, durch List und Macht. Er nutzt die Notlage seines Bruders – der ist müde und hungrig – aus und kauft ihm dieses Recht gegen ein leckeres Linsengericht ab. Transparent, wie Jakob die Alternative deutlich benennt: Erstgeburtsrecht gegen Linsengericht. Listig, wie er die Situation zu seinem Vorteil nutzt. Mächtig, wie Jakob sein Essensangebot bei Hunger und Müdigkeit alternativlos aussehen lässt. Hier gleicht einer seinen Wettbewerbsnachteil aus, nutzt die Notlage des Anderen aus und hat sein eigenes Wohlergehen über alles im Blick.
Achten wir also auf Transparenz, meiden wir List und missbrauchen nicht unsere Macht.
Michael vom Ende, Geschäftsführer von faktor c, einer Initiative von Christen in der Wirtschaft