Martin Luther hat die Reformation in Deutschland angeführt. Kann man von ihm Führungsprinzipien lernen? Der Theologe Christian Frühwald meint: Ja! Denn die Reformation habe den Menschen wertvolle Einsichten über Gott und sich selbst geschenkt.

 

Von Christian Frühwald

„Wer führen will, sollte dies befreit tun!“ Dieser Leitsatz begleitet mich als Pfarrer und Unternehmer seit langen Jahren, seitdem ich vielfältig Führungsverantwortung in Kirche, Diakonie und Wirtschaft trage. Ich bin fest überzeugt davon: Es geht um die innere Haltung, die sich dann auch außen zeigt. Der Reformator Martin Luther ist für mich darin ein Vorbild: Vom gedrückten verängstigten Mönch wird er zum aufrechten Reformator, der um seine Stärken und Schwächen weiß. Der dieses Wissen in seine Führungsaufgabe einbringt, weil er sich vom gnädigen Gott geliebt weiß.

Wie können Sie befreit führen? Ich möchte dafür mit Ihnen fünf Schritte gehen – zwischen biblischen Erkenntnissen und Luthers Entdeckungen, zwischen Erlebnissen in meinem Leben und den noch heute spannenden Führungsmaximen der BMW AG.

1. Schritt: Die Welt ist schon erlöst – und Du auch!

Als theologischer Vorstand einer großen diakonischen Einrichtung musste ich erleben, wie es ist, trotz erfolgreicher Sanierung des Unternehmens und des Aufdeckens von Untreue als erfolgreicher Vorstand abberufen zu werden. Solch eine Entlassung bedeutet erst einmal den Verlust einer Perspektive – beruflich wie persönlich. Angst, Trauer, Wut – all diese Gefühle bestimmten mich nach dieser gefühlten Ablehnung.

Als evangelischer Christ habe ich mich damals wieder an die Zusage Gottes erinnert und erinnern lassen: Ich bin gewollt, geliebt und gesegnet! Was mich trägt, ist die bedingungslose Zusage Gottes in der Taufe: Du bist mein Kind, ich sage ja zu Dir! Mein Wert als Mensch hängt nicht an meinem Erfolg!

Der frühere Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, an dessen Seite ich glücklicherweise über sechs Jahre dienen durfte, sagte immer in schwierigen Situationen, egal ob während der Fusionsverhandlungen der beiden Kirchen oder bei belastenden Personalentscheidungen: Denkt dran, die Welt ist schon erlöst. Und das ist keine Floskel gewesen, diese tiefe Glaubenserfahrung konnte man ihm abspüren.

Deshalb ist der erste Schritt für aktuelle und zukünftige Führungskräfte nichts zu tun, sondern sich von Gott beschenken zu lassen. Bevor der Anspruch an mein Leben kommt, kommt der Zuspruch: Du bist ein genialer Gedanke Gottes! Gott liebt Dich und er segnet Dich!

Damit diese Haltung des Sich-Beschenken-Lassens Realität wird und bleibt in meinem vollen Leben und in meinem manchmal hektischen Alltag, sage ich mir diese zwei Sätze jeden Morgen vor dem Spiegel – oder mit dem Blick auf den blühenden Garten. Vor all meinem Tun liegt der Zuspruch Gottes.

2. Schritt: Ich bin befreit zu, nicht von!

In Wirtschaft und Politik wollen und müssen wir Ziele erreichen. Das ist auch gut so. Damit die Ziele mich aber nicht knechten und lähmen, braucht es eine innere Klarheit über die Frage: Wie bin ich befreit?

Befreit führen kann ich nur, wenn ich befreit bin. Doch es gibt zwei Möglichkeiten, befreit zu sein: Das übliche Verständnis ist, befreit zu sein von meinem Ehrgeiz, meiner Wut, meinen Schwächen! Befreit von: Das ist ein defizitorientierter Ansatz. Denn ich bin ein Mensch mit Fehlern, Lastern und Makeln. Von denen muss ich mich befreien. Das klingt nicht nur nach harter Arbeit, das ist es auch.

Evangelisch befreit zu sein, bedeutet etwas anderes: Ich bin befreit zur Liebe, zum erfolgreichen Handeln, zur Wahrheit und Klarheit, zum Umsetzen meiner Träume und Ideen. Dahinter steckt ein ganz anderes Bild vom Menschen, nämlich ein stärkenorientierter Ansatz. Du Mensch bist begabt und befähigt, das Gute zu tun. „Befreit zu“ ist die innere Haltung, mich anzunehmen, wie ich bin, und mich nach vorne auszurichten. Nicht die Vergangenheit zählt, sondern die Zukunft mit meinen Liebsten, mit meinen Kollegen und Geschäftspartnern und der Welt.

Theologisch ausgedrückt: Mir wird Vergebung geschenkt, ich werde quasi automatisch befreit von den Altlasten der Vergangenheit und kann jeden Tag neu anzufangen. Doch das geschieht durch meine Ziele heute und in Zukunft. Mein Blick wird jeden Tag auf die Zukunft in Gott ausgerichtet. Denn ich will befreit zum Willen Gottes leben. Mein Leben hat ein Ziel, und ich bin frei, dafür zu arbeiten!

3. Schritt: Ich bin berufen zu führen!

Die BMW-Handlungsmaxime Nummer eins von 1983 sagt sehr klar: Jede Führungsebene hat eine Vorbildfunktion für die nachgeordneten hinsichtlich der Realisierung der Unternehmensziele. „Ein Unternehmen kann auf Dauer nur so gut sein wie die Führungsspitze und die Mitarbeiter nur so gut wie das Vorbild des Vorgesetzten. Dieses Vorbild gibt jedem Mitarbeiter genau die Orientierungshilfe jenseits konkret messbarer Ziele und direkter Anweisungen, um zu erkennen, was – im Sinne des Unternehmens – erwünscht ist.“

Das erwartet BMW von seinen Führungskräften und das erwarten ihre Mitarbeitenden von ihnen. Deshalb ist es meine Aufgabe, eine innere Haltung zu entwickeln, wenn ich mich entscheide, in eine Führungsposition zu gehen, die mich als Vorbild wirken lässt und mit mir als Person stimmig ist. Dies nimmt meine Gottes Ebenbildlichkeit ernst und lässt mich so sein, wie ich bin. Das ist die Aussage gegen alle gleichmachenden Ansätze: „Eine Führungsperson muss so und so sein …“

Daraus erwächst meine innere Haltung. Mein Beruf als Führungskraft wird so meine Berufung und Führung meine Aufgabe! Werde ich an eine Führungsposition gestellt, so nehme ich sie bewusst, fröhlich und mit Energie wahr. Das erwartet Martin Luther nicht nur von den Fürsten und Priestern, sondern von allen Menschen in ihrem Beruf. Martin Luther verbindet diese Erwartung auch mit einer Grundeinsicht über den Menschen. Das Leben ist ein Werden, nicht ein Sein. Deswegen dürfen und müssen Führungskräfte sich auch weiterentwickeln. Denn nicht nur die Wirtschaft ist dynamisch, sondern auch das Leben an sich.

4. Schritt: Ich unterscheide zwischen Person und Werk!

Eberhard von Kuenheim, der langjährige BMW-Vorstandsvorsitzende, goss seine lutherischen Glaubenseinsichten in die Führungsleitlinien der BMW AG. Diese haben noch heute Geltung. Ich glaube, dies liegt auch an der BMW-Handlungsmaxime sechs. Sie sagt aus, dass es darum geht, Probleme zu lösen und nicht Schuldige zu suchen.

Damit wird die Unterscheidung Martin Luthers zwischen Person und Werk in konkretes Handeln umgesetzt. Denn damit weiß ich als Führungskraft: Egal, wie groß die Kritik an der Handlung des Einzelnen ist, die Würde der Person ist immer zu wahren.

Das Werk, das konkrete Handeln des Einzelnen wird durch diese Unterscheidung jedoch kritisierbar. Mit dieser inneren Haltung gestalte ich befreit eine Kultur zwischen Liebe und Wahrheit!

In dieser von Führungskräften geprägten Kultur geht es um das richtige Verhältnis zwischen Liebe und Wahrheit. Mich bestimmt in meinem Führungshandeln daher der Spruch: Wahrheit ohne Liebe ist unbarmherzig – Liebe ohne Wahrheit ist heuchlerisch.

Alle meine aktuellen und ehemaligen Mitarbeitenden und Kollegen kennen daher meinen Lieblingsspruch: Klarheit schafft Sicherheit. Das zu leben ist manchmal anstrengend, aber nur wenn ich einem Menschen mit Klarheit begegne, weiß er oder sie, wie sie dran sind. Erst so können wir wirklich in Kommunikation und Interaktion eintreten. Ich darf dann als Führungskraft auch selbst Fehler zugeben, ich kann mich frei entschuldigen.

Denn es ist viel aufwändiger, die Schuld zu vertuschen, als um Entschuldigung zu bitten. So entsteht im Unternehmen, in meiner Organisation, eine Kultur, die zur Entwicklung nach vorne und damit auch zum Erfolg befreit und bereit ist.

5. Schritt: Gott schenkt mir den Genuss!

Auch der fünfte und letzte Schritt ist wichtig: Ich bin befreit zum Genießen von Gottes guten Gaben! Wer arbeitet, muss auch feiern! Mit Martin Luther gesagt: Wenn Gott die guten Rheinweine und die großen Hechte schafft, dann dürfen wir sie auch genießen. Verbissenheit ist jedenfalls keine christliche Tugend, auch Völlerei nicht. Aber mit Christus leben heißt auch, die Feste zu feiern, wie sie fallen!

Ich habe die Freiheit, Gottes gute Gaben zu genießen, mir die Freude durch ein gutes Glas Wein ins Gesicht zaubern zu lassen – oder durch einen leckeren Saft! Denn wer zum Genuss befreit ist, der kann auch dem anderen etwas gönnen. Mit den BMW-Führungsmaximen gesagt: Der kann auch den anderen seinen Erfolg gönnen. Freiheit zum Genuss befreit von einem krankhaften Konkurrenzdenken, ja es befreit zur Gelassenheit mit Energie. Beides brauche ich zum fröhlichen, gelassenen und erfolgreichen Führen.

Gehen Sie Ihren ersten Schritt! Und denken Sie daran: Leiden ist kein Strukturmerkmal christlichen Lebens, auch nicht für Führungskräfte. Machen sie sich auf, gehen sie Ihren ersten Schritt. Es ist egal, wo und mit welchem Schritt sie anfangen. Wichtig ist: Gott geht mit Ihnen – und unser Befreiergott hat keine Lust am Leiden seiner Menschen. Der biblische Befreiergott freut sich über aufrecht gehende, selbst denkende und tief fühlende Menschen, die befreit zum Tun des Guten sind. Denn es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

 

Christan Frühwald, Jahrgang 1968, ist promovierter evangelischer Theologe und ordinierter bayerischer Pfarrer. Er war Personalchef in der Kirchenprovinz Sachsen und in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen. Im Zweitberuf hat er sich dann für das Unternehmertum entschieden, seit 2014 ist er als Projektentwickler im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen tätig. Er ist verheiratet mit der evangelischen Dekanin des Kirchenbezirks Michelau im Obermaintal, Stefanie Ott-Frühwald, und Vater von zwei Kindern.