Zeitverschwendung verschärft Fachkräftemangel
Schockierende Studie: Arbeitseffizienz in Büros drastisch gesunken
Alles soll dank der Digitalisierung schneller und effektiver gehen. Doch funktioniert das? Eine Langzeitstudie zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Grund ist aber nicht die Technik, sondern ein dilettantischer Umgang mit ihr.
Von Jürgen Kurz
Der Fachkräftemangel in Deutschland bestimmt seit Jahren die Schlagzeilen. Überall fehlt es an fachkundigen, kompetenten Mitarbeitern, und das über sämtliche Branchen hinweg. Dass die Arbeit vielerorts liegenbleibt, weil viele Stellen unbesetzt bleiben, steht außer Frage. Dass es für dieses Problem aber auch noch eine andere Erklärung geben könnte, zeigen nun die neuesten Ergebnisse einer groß angelegten Langzeitstudie zur Büroeffizienz. Diese hatte zum Ziel, die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung auf die berufliche Kommunikation und die Arbeitsorganisation in Deutschland zu untersuchen.
Die Ergebnisse der Studie, die das Unternehmen Büro-Kaizen® in Zusammenarbeit mit der AKAD-Hochschule in Stuttgart durchgeführt hat, überraschen selbst Branchenexperten. Denn sie beweisen, dass sich die Arbeitseffizienz in deutschen Büros trotz – oder gerade wegen – der fortschreitenden Digitalisierung in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verschlechtert hat. So ist diese um sage und schreibe 50 Prozent niedriger als noch zu Beginn der Studie im Jahr 2013. Geht die deutsche Wirtschaft also gar nicht nur wegen eines Mangels an Fachkräften auf dem Zahnfleisch, sondern zu einem großen Maß auch deshalb, weil in deutschen Büros immer ineffizienter gearbeitet wird?
Sinnlose E-Mails, ergebnislose Meetings
Das jedenfalls legen die Ergebnisse der Online-Befragung nahe, die mit 850 Teilnehmern
(überwiegend Führungskräfte) aus allen Branchen und Hierarchieebenen die bedeutendste ihrer Art im deutschsprachigen Raum ist. So konnten überflüssige E-Mails, ineffiziente Besprechungen und unnötige Suchzeiten als die größten Zeitfresser identifiziert werden. Diese Ergebnisse allein stellen zwar keine neuen Erkenntnisse dar. Schockierend ist allerdings, wie drastisch die Zeitverschwendung in den vergangenen Jahren nochmals zugenommen hat. Waren es 2013 noch 102 Minuten pro Tag und 2018 knapp 122 Minuten, in denen sich die Befragten beispielsweise mit der Bearbeitung von E-Mails beschäftigten, waren es 202 unglaubliche 163 Minuten – ein Anstieg um 60 Prozent.
Ich kann mir diese Ergebnisse erklären, denn in meinem Praxisalltag stelle ich immer wieder fest, dass nur wenige Unternehmen Regeln für den Umgang mit E-Mails haben. So werden beispielsweise Mitarbeiter in den Verteiler aufgenommen, die mit einem Sachverhalt nur peripher oder gar nichts zu tun haben. Das kostet wertvolle Bearbeitungszeit. Die Aussagen der Studienteilnehmer untermauern diese Beobachtungen: So werden in gerade einmal 17 Prozent der Unternehmen einmal aufgestellte E-Mail Spielregeln tatsächlich gelebt. Mehr noch: Sehr viele E-Mails bleiben dabei sogar ungelesen. Als Gründe für die Nicht-Bearbeitung von Mails gaben die Studienteilnehmer zu einem Drittel fehlende Zeit und zu zwei Dritteln schlechte Organisation an.
Zeitfresser Besprechungen
Auch Meetings rauben immer mehr Zeit im Büro-Alltag. Im Vergleich zu 2018 verbringen
Arbeitnehmer heute 23 Prozent mehr Arbeitszeit damit, über die Dinge zu sprechen, die erledigt werden müssen.Grund ist allerdings nicht, dass es mehr zu besprechen gäbe, sondern dass oft ineffektiv gearbeitet wird. Weil beschlossene Ergebnisse nur unzureichend
protokolliert (zu 55 Prozent) und deshalb auch kaum umgesetzt werden (zu 37 Prozent), stieg die verlorene Arbeitszeit im Vergleich zu 2013 um erschreckende 72 Prozent.
Auch die pandemiebedingte Verlegung vieler Meetings in die virtuelle Welt (55 Prozent in 2022 gegenüber 7 Prozent in 2018) hat keine Zeitersparnis eingebracht – im Gegenteil. Das dazwischen geschaltete Medium scheint Besprechungsteilnehmer dazu zu verführen, sich leichter ablenken zu lassen. Unsere Umfrage hat ergeben, dass von fünf Besprechungs-teilnehmern durchschnittlich eine Person parallel an komplett anderen Dingen arbeitet und der Sitzung demnach auch nicht aufmerksam beiwohnt.
Ein Tag pro Woche suchen
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie: Das dezentrale Arbeiten im Homeoffice und die
damit verbundene Digitalisierung von Daten ließen die Suchzeiten enorm ansteigen, und zwar um 28 Prozent gegenüber 2018. So gaben die Befragten an, 19,6 Prozent ihrer Arbeitszeit allein mit dem Suchen nach Unterlagen, Ordnern und Dateien zu verbringen. Digitale Dokumente machen davon 11,6 Prozent aus. Wir haben festgestellt, dass sich die Suchzeiten seit unserer ersten Erhebung im Jahr 2013 nahezu verdoppelt haben. Meine Erklärung für dieses Phänomen: In fast 70 Prozent der Unternehmen existieren keinerlei Vorgaben zur Ablage von Dokumenten. Doch Digitalisierung ohne Ablagespielregeln ist ein echter Effizienzkiller.
Zudem kam durch die Befragung ans Licht, dass Mitarbeiter zunehmend mit der Digitalisierung fremdeln. Vielen fehlt das Wissen im Umgang mit digitalen Tools, die die Arbeit erleichtern könnten. Umgekehrt hinkt die Digitalisierung in vielen Büros aber auch immer noch dem Machbaren hinterher. Und auch das kostet Zeit. So kam die Studie auf einen Anstieg der Zeitverschwendung von 68 Prozent, weil Prozesse noch analog durchgeführt werden, etwa dann, wenn eine manuelle Eingabe von Daten nötig ist, weil die entsprechende Schnittstelle zwischen zwei Medien fehlt.
Projekte laufen aus dem Ruder
Unklare Absprachen, Probleme an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen und Inkonsequenz bei der Umsetzung von Aufgaben führen außerdem dazu, dass viele Projekte inhaltlich, kostenmäßig und terminlich nicht wie geplant laufen. Die Studie hat gezeigt, dass auch im Projektmanagement jede Menge Luft nach oben ist. Fast 40 Prozent der Projekte laufen aus dem Ruder, was Verzögerungen, Mehrkosten und verschenktes Potenzial zur Folge hat.
Dass es in vielen Unternehmen nicht so rund läuft, was die Bürostrukturen betrifft, hat auch Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter. Denn was liegenbleibt, wird oft in der Freizeit erledigt. So gaben beispielsweise 66,5 Prozent der Befragten an, dass es sie belaste, ungelesene oder unbearbeitete E-Mails in ihrem Posteingang zu haben. Mit der Folge, dass die Hälfte aller befragten Teilnehmer berufliche E-Mails auch am Wochenende bearbeiten. Die Grenzen zwischen Privatleben und Berufsleben verschwimmen immer mehr – und heute mehr denn je, seit immer mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Eine Entwicklung, die sich negativ auf die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auswirkt. Über die zehn Jahre, die unsere Studie läuft, beklagen immer mehr Menschen, dass sie in ihrer Freizeit und im Urlaub nicht gut von der Arbeit abschalten können. Das schadet in Folge auch den Unternehmen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin schockiert von diesen Entwicklungen. Wir leben in der größten Wirtschaftskrise seit der Gründung der Bundesrepublik und leisten es uns trotzdem, jede dritte Arbeitsstunde im Büro zu verschwenden. Führungskräfte müssen hier die Reißleine ziehen, damit sich Mitarbeiter wieder um den Unternehmenserfolg kümmern und nicht um die stundenlange Suche nach Papieren und Dateien, das Abarbeiten sinnloser E-Mails oder das Absitzen ineffizienter Meetings. Wenn Digitalisierung zu mehr Zeitverschwendung führt, dann hat sie ihr Ziel verfehlt. Doch ich bin weiterhin sicher: Die Chancen der Digitalisierung sind um ein Vielfaches größer als ihre Probleme. Es ist allerhöchste Zeit – und wir haben die Mittel dazu -, die Zeitfresser zu bändigen und mit klaren Regeln und Absprachen systematisch effektiver zu werden.
Jürgen Kurz, Jahrgang 1965, ist Geschäftsführer der Unternehmen tempus und Büro-Kaizen®. Mit seinen Unternehmen ist er vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem als Gewinner des Ludwig-Erhard-Preis-Wettbewerbs. Zu seinen Veröffentlichungen gehören „So geht Büro heute!“ und ,,Erfolgreich digital zusammen arbeiten“.