Segen und Fluch von Sanktionen

Der Krieg in der Ukraine fordert die Weltgemeinschaft ethisch heraus

Wie sollte die Weltgemeinschaft auf die Invasion russischer Truppen in der Ukraine reagieren? Eine sehr große Zahl von Staaten hat sich für umfassende Wirtschaftssanktionen entschieden. Eine gute Option, findet der Wirtschaftsethiker Harald Bolsinger. Allerdings entfalteten Sanktionen ihre Wirkung oft erst mittelfristig.

Von Harald Bolsinger

 

Was spricht im derzeitigen Konflikt für und was gegen Wirtschaftssanktionen gegen Russland? Der Angriff des Kremls auf die Ukraine fordert die gesamte Weltgemeinschaft heraus, weil mit dem Krieg wesentliche Fundamente der Vereinten Nationen in bislang nicht gekanntem Ausmaß in Frage gestellt werden und gezielt eine vermeidbare humanitäre Katastrophe mit hohen Kollateralschäden erzeugt wird.

Die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit von Nationen und deren territoriale Integrität müssen garantiert bleiben. Andernfalls fallen wir in ein sehr dunkles Zeitalter voller interessengeleiteter Kriege zurück. Ein derartig gewaltsames Vorgehen wie durch den Kreml erfordert zwingende Gegenreaktionen, um der Geltung der nach dem zweiten Weltkrieg mühsam aufgebauten Charta der Vereinten Nationen gerecht zu werden.

 

Appelle reichen nicht

 

Die globale Sicherheitsarchitektur, die uns eine Koexistenz von Nationen in Frieden sichern soll, lässt sich nicht mit Appellen allein erhalten. Wenn Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes derart gewaltsam überschritten werden, sind aus ethischer Sicht Wirtschaftssanktionen eine zwingende Antwort. Einerseits, um nicht mit Waffengewalt eine schlimmstenfalls globale Eskalationsspirale des Krieges zu befeuern, und andererseits, um Verhandlungsmacht aufzubauen. So werden Friedensverhandlungen wahrscheinlicher, die den Konflikt wieder auf die politische Ebene mit friedlichen Mitteln zurückführen können.

Bei Wirtschaftssanktionen hat zumeist die ganze Weltgemeinschaft Wohlstandsverluste, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Diese Wohlstandsverluste werden manchmal ins Feld gegen Sanktionen geführt, weil Frieden in finanzkapitalgetriebenen Vorstellungen zu Friedenszeiten kein echter Wert zugemessen wird. Er ist eben einfach da. Ähnlich verhält es sich mit Freiheit von und innerhalb von Nationen, deren Wert man erst bei ihrer Abwesenheit erkennt. Frieden und Freiheit in der Welt als langfristige Grundlage unseres Wohlstands haben aber auch ihren Preis, der nun sichtbar wird.

Politische Entscheider sind deshalb zur Recht besorgt – auch weil wirtschaftliche Folgen Wählerstimmen kosten können. Dennoch sind viel Sanktionen, die noch nicht sofort umgesetzt wurden, implizit bereits entschieden: Ein langfristiges Energieembargo gegen den Kreml ist alleine aus strategischen Gründen bereits unausweichlich, damit der Staatshaushalt des Kremls weniger Spielraum für Kriegsmaschinerie und Soldzahlungen lässt und die innenpolitische Diskussion nicht dauerhaft durch Propaganda unterdrückt werden kann.

 

Stärkste Sanktionen der Geschichte

 

Ob und wie Sanktionen in der Vergangenheit Wirkung gezeigt haben, ist schwer zu beurteilen, weil Politik viele Dimensionen und Einflussgrößen gleichzeitig hat und Sanktionen ja gerade indirekt wirken sollen. Im aktuellen Fall soll der Krieg beendet werden, indem Sanktionen die Fortführung immer unattraktiver für den Aggressor machen. Worauf dann schlussendlich eine Entscheidung basiert, ist nie sicher zu rekonstruieren, weil immer mehrere Einflussgrößen zusammenwirken.

Es gibt keinerlei Beispiel in der Geschichte für derartig umfangreiche und schnell verhängte Sanktionen wie aktuell gegen den Kreml. Russland wurde innerhalb von wenigen Tagen zum am stärksten sanktionierten Land der Welt in einer Vielzahl von Wirtschaftsbereichen. Und zwar gleichzeitig sanktioniert von einer Vielzahl von Staaten und privaten öffentlichen Organisationen sowie Unternehmen in den Bereichen Geld und Finanzmärkte, Flugverkehr und Reisefreiheit, Technologie und Luxusgüter, aber auch Güter des täglichen Bedarfs bis hin zu Kultur und Sport durch den Ausschluss von internationalen Wettkämpfen. Das zeigt, dass all diese Akteure Krieg als Mittel politischer Machtausübung ablehnen und sich mit der Gewalt des Kremls nicht tatenlos abfinden.

 

Was den Iran veränderte

 

Das bisher am stärksten sanktionierte Land der Welt war der Iran, wobei die Ausweitung dieser Sanktionen immer zeitgleich mit Verhandlungsangeboten verbunden war. Es hat lange gedauert, aber durch sanktionsbedingte Wirtschaftsprobleme wie Staatsverschuldung, Inflation und Arbeitslosigkeit scheint die Bevölkerung die Absichten des dann tatsächlich auch 2013 gewählten Staatspräsidenten Hassan Rohani attraktiv gefunden zu haben, das Land aus der internationalen Abschottung zu führen.

Das ist eines der Beispiele, an denen deutlich wird, dass Sanktionen erfolgreich sein und vor allem mittelfristig Wirkung entfalten können. Je massiver und international geschlossener Sanktionen sind, desto größer ist ihr Erfolgspotenzial für Verhaltensänderungen der Aggressoren, wenn sie mit Dialogangeboten und Auswegsperspektiven verknüpft sind.

 

Christliche Optionen

 

Aus christlicher Perspektive ist sicherlich eine der wichtigsten Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine, für alle Leidtragenden zu beten und ebenso für einen Geist des Friedens und der Liebe in den Köpfen der Aggressoren. Wir wissen, dass das Böse nicht durch Böses besiegt werden kann, sondern nur durch die Liebe Jesu. Das vor Augen zu behalten, hilft mir bei jeder ethischen Abwägung.

Die erste Ethikfrage, die ich mir immer bei der Abwägung von Reaktionsoptionen stelle, ist die nach dem Gewissen. Sind wir mit guten Absichten für alle Beteiligten – also wirklich alle – unterwegs? Dann prüfe ich die Frage der generellen Zulässigkeit von Optionen im Kontext – hier zum Beispiel Aufnahme von Geflüchteten, Sanktionen, Unterstützung bei der Selbstverteidigung, militärisches Eingreifen. Und schlussendlich beurteile ich die potenziellen Auswirkungen von Reaktionen.

So sehr es klar ist, dass jegliche Form des Krieges mit all seiner Gewalt keine aktiv zu wählende Option für Christen darstellt, so sehr steht aber auch die Hilfe und Verteidigung der geschundenen Schwachen aus menschlicher Sicht im Raum. Augustinus von Hippo hat sich schon im 4. Jahrhundert mit der Frage des Krieges theologisch auseinandergesetzt und damit die Basis des heutigen Kriegsvölkerrechts gelegt. Wenn wir mit der richtigen Absicht als letztes Mittel nach all den kurzfristig noch nicht wirkenden Sanktionen Waffen zur Verteidigung liefern und dabei die Überzeugung haben, dass es eine echte Aussicht auf ein Ende des Krieges gibt, dann ist es tatsächlich geboten, so schnell es nur geht Waffen zur Verteidigung zu liefern.

 

Einen Schritt weiterdenken

 

Bei aller Furchtbarkeit der aktuellen Entwicklungen müssen bei Sanktionen immer auch ein Ablaufdatum oder klar definierte Konditionen für deren Aufhebung mitdiskutiert werden. Diese sind nur so lange sinnvoll, wie ihre politische Zielsetzung noch nicht erreicht ist – und aktuell geht es politisch zunächst darum, dass alle Kriegshandlungen schnellstmöglich unterbrochen werden oder bestenfalls der Krieg vollständig beendet wird.

Es ist kein Ziel, Russland Schaden zuzufügen, sondern den Kreml zurück zu legitimen politischen Mitteln jenseits militärischer Gewalt zu bringen. Extremste Wirtschaftssanktionen sind wichtig, aber gleichzeitig brauchen wir Perspektiven, einzelne Sanktionen wieder zu beenden. Je länger Aggressoren mit der Einstellung ihrer Aggression warten, desto länger sollten Sanktionen auch nachwirken. Das gilt es jetzt festzulegen, um nicht nach dem Krieg erneute politische Konflikte über die Beendigung von Sanktionen heraufzubeschwören.

Ebenso sind die Fragen zum Vorgehen gegen Schattenfinanzzentren noch nicht geklärt, die sich sehenden Auges mitschuldig machen an unermesslichem Leid und die an den Aggressoren dieser Welt prächtig verdienen. Warum ist es in Deutschland so schwer möglich, Vermögenswerte festzusetzen oder zu beschlagnahmen, die über Briefkastenfirmen individuelle Eigentümer verschleiern? Auch solche Fragen stellen sich im Ukraine-Konflikt neu – und leider sehr viel dringender.

 

 

 

AUTORENKASTEN:

Prof. Dr. Harald Bolsinger, Jahrgang 1973, ist Wirtschaftsethiker an der der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. An der Fakultät Wirtschaftswissenschaften bedient er den Fachbereich Ethik, Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit in Lehre und Forschung über alle wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge hinweg und ist in den Lehrbereichen Digitalisierung, Entrepreneurship, Organisationsentwicklung und Führung mit Werten aktiv. Der Katholik ist verheiratet, Vater von vier Kindern, und engagiert sich u.a. in christlichen und werteorientierten Verbänden.

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