Die Ethik des Whistleblowing
Für die einen sind sie Verräter, für die anderen Helden: Whistleblower decken durch die Weitergabe interner Informationen Missstände auf. Was ist davon aus ethischer Sicht zu halten? Und kann sich eine Organisation gegen Whistleblowing schützen? Antworten gibt Wirtschaftsprofessor Christian Müller von der Universität Münster.
Von Christian Müller
Erinnern Sie sich noch an Edward Snowden? Der 1983 geborene US-Amerikaner ist wohl einer der bekanntesten Whistleblower der letzten Jahrzehnte. Snowden war früher technischer Mitarbeiter der US-Geheimdienste Central Intelligence Agency (CIA), National Security Agency (NSA) sowie der Defense Intelligence Agency (DIA). Snowden war bis
Mai 2013 im Auftrag der NSA als Systemadministrator für das Consulting-Unternehmen Booz Allen Hamilton tätig. In diesem Zusammenhang hatte er Zugang zu streng geheimen Informationen über US-amerikanische und britische Programme unter der Obama-Administration zur Überwachung der weltweiten Internetkommunikation. Snowden übermittelte diese Informationen, zunächst anonym, an Glenn Greenwald, einen Journalisten des Guardian. Die von ihm weitergeleiteten Information gewährten einen tiefen Einblick in den Umfang der Überwachungs- und Spionageaktivitäten vor allem der USA und des Vereinigten Königreichs.
Im Juni 2013 erstattete die amerikanische Bundespolizei FBI Anzeige gegen Snowden wegen Diebstahls von Regierungseigentum, der widerrechtlichen Weitergabe von Geheimakten sowie wegen Spionage. Jeder dieser Straftaten könnten mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet werden. Snowden wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht. Seit August 2013 befindet er sich in Russland.
Nicht alle indes halten den Whistleblower für einen Verbrecher. Andere verehren ihn als Helden, wie die Auszeichnungen Snowdens durch mehrere Nichtregierungsorgsanisationen (NGOs) belegen. Snowden erhielt nicht nur 2014 den Ehrenpreis des Right Livelihood Award, den sogenannten Alternativen Nobelpreis, sondern wurde 2016 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert.
Internes und externes Whistleblowing
Unterstellt man, dass internes Whistleblowing eine wichtige Informationsquelle für die jeweilige Unternehmensleitung darstellt, so dürften sich hier wenig ethische Rechtfertigungsprobleme ergeben. Die Integrität verlangt es, dass der Whistleblower den Verantwortlichen seines Unternehmens von seinen Besorgnissen berichtet. Legitimationsschwierigkeiten betreffen indes den Fall des externen Whistleblowing. Die Varianz der ethischen Bewertungen dieser Art der Informationsbereitstellung für die Öffentlichkeit ist hoch.
Auf der einen Seite finden sich Stimmen, nach denen die Angehörigen einer Organisation eine uneingeschränkte Loyalitätspflicht gegenüber ihrem Unternehmen haben. Die Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit ist damit unter allen Umständen verboten; Whistleblower sind in dieser Sicht nichts als Verräter. Exemplarisch hierfür mag ein berühmtes Zitat des früheren General-Motors-Chefs James Roche (1906–2004) stehen:
„Einige Kritiker sind nun damit beschäftigt, eine weitere Stütze der freien Wirtschaft auszuhöhlen – die Loyalität eines Managementteams zu seinen gemeinsamen Werten und seiner kooperativen Arbeit. Einige Feinde der Wirtschaft ermutigen nun einen Mitarbeiter, disloyal zu seiner Unternehmung zu sein. Sie wollen Verdacht und Disharmonie schaffen und in den Eigentümerinteressen des Geschäfts herumschnüffeln. Wie immer es bezeichnet wird – Industriespionage, Whistleblowing oder berufliche Verantwortung –, es ist eine neue Taktik, um Uneinheit zu streuen und Konflikte zu schaffen.“
Loyalitätspflicht gebrochen?
Eine zweite Position nimmt wie Roche an, dass Arbeitnehmer zumindest eine Prima-facie-Pflicht (also augenscheinliche Pflicht) zu Loyalität und Vertraulichkeit gegenüber ihrem Arbeitgeber haben und dass diese Loyalität durch den Akt des Whistleblowing gebrochen wird. Externes Whistleblowing ist damit grundsätzlich verboten. In ihrer für die akademische Analyse des Whistleblowing grundlegenden Arbeit argumentiert die Ethikerin Sissela Bok – sie ist übrigens die Tochter gleich zweier Nobelpreisträger (Gunnar Myrdal 1974 für Wirtschaft, Alva Myrdal 1982 für Frieden) – ebenfalls mit einer grundlegenden Verletzung der Loyalitätspflicht:
„Der Whistleblower hofft, das Spiel zu stoppen; aber da er weder Schiedsrichter noch Trainer ist, und da er gegen seine eigene Mannschaft pfeift, wird sein Handeln als Verletzung der Loyalität angesehen. Indem er sein Amt ausübt, hat er bestimmte Verpflichtungen gegenüber seinen Kollegen und Kunden. Vielleicht hat er sogar einen Loyalitätseid oder ein Vertraulichkeitsversprechen unterzeichnet.“
Whistleblowing verlangt für Bok eine schwerwiegende Güterabwägung. Der Hinweisgeber muss gewissermaßen wählen, wen er verraten möchte: entweder seinen Arbeitgeber, seine Kollegen und Kunden oder aber die Öffentlichkeit. Wenn daher das Weiterleiten von Hinweisen an die Öffentlichkeit doch ausnahmsweise erlaubt sein soll, müssen vor diesem Hintergrund sehr gute Rechtfertigungsgründe vorliegen. Solche Gründe für externes Whistleblowing könnten gegeben sein, wenn zum Beispiel …
• der Allgemeinheit Schaden durch das Unternehmen droht,
• dem direkten Vorgesetzten Bericht erstattet wurde, dieser jedoch nichts unternimmt,
• alle sonstigen Möglichkeiten innerhalb des Unternehmens (vor allem alle Möglichkeiten internen Whistleblowings)
ausgeschöpft sind,
• Beweise vorliegen, die vernünftige Personen überzeugen würden,
• der Hinweisgeber in Übereinstimmung mit seinen Verantwortlichkeiten handelt,
• keine finanziellen Motive hat und
• mit seiner Handlung vernünftige Aussichten auf Erfolg hat, den kritisierten Zustand abzustellen.
Gebotene Weitergabe von Infos
In der Literatur finden sich auch Stimmen, nach denen – zumindest als Ultima Ratio – selbst externes Whistleblowing gar nicht immer mit richtig verstandener Loyalität gegenüber dem eigenen Unternehmen in Konflikt stehen muss. Danach verstößt die Weiterleitung von Informationen an Dritte nicht gegen die Loyalität eines Arbeitnehmers gegenüber seiner Organisation, wenn das Aufdecken des Fehlverhaltens des Arbeitgebers und die Loyalität ihm gegenüber dem gleichen Ziel dienen. Wenn Loyalität gegenüber einer Person oder Organisation bedeutet, in Übereinstimmung mit dem zu handeln, von dem man gute Gründe hat zu glauben, dass es im Interesse dieser Person oder Organisation ist, dann kann – so die Grundidee – dieses Handeln nicht unmoralisch sein. Whistleblowing wäre dann im Einzelfall nicht lediglich erlaubt, sondern sogar geboten. In diesem Sinne argumentiert etwa der überparteiliche und gemeinnützige Verein Whistleblower-Netzwerk im Jahr 2014:
„Whistleblower werden […] verstanden als Dissidenten oder Hinweisgeber aus Gewissensgründen – Menschen, die in einem Akt der Zivilcourage unlautere Machenschaften von Regierungen, Verwaltungen oder Unternehmen an die Öffentlichkeit bringen, um diese Missstände zu unterbinden. Whistleblower setzen so nicht selten ihren Arbeitsplatz und ihr soziales Ansehen und ihren Ruf aufs Spiel. Sie werden sehr häufig Opfer von Mobbing-Attacken oder auch Denunziationskampagnen. Wer Staatsgeheimnisse an die Öffentlichkeit bringt, zum Beispiel Entsorgung von Atommüll im Meer, kommt unter Umständen ins Gefängnis. Wer Fehlverhalten großer Unternehmen, bei denen hohe Investitionen auf dem Spiel stehen, publik macht, muss auch mit hohen Schadenersatzforderungen und kriminellen Angriffen rechnen. Dabei handelt der Whistleblower verantwortungsvoll und auch loyal, indem er sich beispielsweise mit seiner Firma identifiziert und an ihre Zukunft denkt.“
In ähnlicher Weise hat auch der bekannteste Whistleblower der katholischen Kirche, der Jesuitenpater Klaus Mertes, gerechtfertigt, dass er 2010 den jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute öffentlich machte. Sein Handeln sei ein „Widerspruch aus Loyalität“ gewesen.
In Fällen wie diesen stellt sich jedoch immer auch die Frage, unter welchen Umständen eine Person das Recht hat, anzunehmen, dass das, was sie aus ihrer Sicht für richtig hält, eher im wohlverstandenen Eigeninteresse der betreffenden Person oder Organisation liegt, als das, was eine andere Person (mit Verantwortung in derselben Organisation) offensichtlich für angemessen hält.
Grundlegende Rechtfertigung
Eine besonders originelle Rechtfertigung eines uneingeschränkten – selbst externen – Whistleblowings bietet schließlich der amerikanische Unternehmensethiker Ronald F. Duska (1985): Arbeitnehmer haben danach nicht einmal eine Prima-facie-Pflicht zu Loyalität und Vertraulichkeit gegenüber ihrem Arbeitgeber. Denn Pflichten könne man nur gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen von Personen haben, nicht aber gegenüber juristischen Fiktionen wie Unternehmen. Zudem existiere Loyalität nur in Beziehungen, die Selbstopfer ohne Aussicht auf Belohnung verlangten, wie etwa in Beziehungen zwischen Freunden oder Familienmitgliedern. Der Arbeitsvertrag mit einer gewinnmaximierenden Unternehmung sei aber auf Belohnung angelegt.
Internes Whistleblowing fördern Wie auch immer man jedoch die Rechtfertigung von Whistleblowing im Einzelfall bewerten mag, so sind die betroffenen Unternehmen gut beraten, die Weitergabe von Hinweisen auf außerdienstlichen Wegen nicht lediglich als eine nervige Form von Denunziantentum abzutun, sondern eine Problem- und Fehlerkultur anzuregen, die das gemeinsame Lernen aus fehlerhaften Unternehmensprozessen betont und benutzt, um betriebliche Abläufe zu optimieren. Es kann internes Whistleblowing als wichtige Information über Missstände nutzen und anregen, etwa indem es Ombudsleute, Ethik- und Compliance-Beauftragte oder -Abteilungen einrichtet oder andere Informationskanäle wie Kummerbriefkästen, anonyme Sorgentelefone und sonstige Melderegeln für unzulässiges Handeln einrichtet. All dies sollte darauf zielen, die Reputationsschädigung durch externes Whistleblowing zu vermeiden.
Der Text ist entnommen aus:
Christian Müller, Grundzüge der Wirtschaftsund Unternehmensethik: Eine Hürde für den Mittelstand? 307 Seiten, 34,95 Euro. Schäffer-Poeschel Verlag (Stuttgart) 2022.
Christian Müller, Jahrgang 1967, ist seit 2008 Professor für Wirtschaftswissenschaften und Ökonomische Bildung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist verheirateter Vater von drei Kindern und engagiert sich beim Verband „Christen im Beruf“. Außerdem sitzt er der Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik vor.