Wer keine Grenzen setzt, macht sich kaputt. Dieses Problem haben viele Führungskräfte. Im folgenden Beitrag erläutert eine Therapeutin, warum Grenzenlosigkeit gefährlich ist und wie ein gesundes Grenzensetzen praktisch funktionieren kann.

 

 

Von Luitgardis Parasie

 

Oliver ist Geschäftsführer, in seiner Firma ist er verantwortlich für 150 Angestellte. Eines Tages kommt er in die psychotherapeutische Sprechstunde und platzt gleich heraus: „Ich habe einen Burnout. Schmerzen überall. Herzrasen. Hoher Blutdruck. Schwindel. Angst, ich kippe um und bin tot. Ich kann nicht mehr schlafen. Komme nicht zur Ruhe. Ich mache mir größte Sorgen, dass ich meine Arbeit nicht mehr schaffe. Im vergangenen Urlaub in den Bergen bekam ich plötzlich so heftige Herzbeschwerden mit Druck auf der Brust, dass meine Frau den Notarzt rief. Ich wurde ins Krankenhaus eingewiesen. Dort wurde ich gründlich untersucht. Aber eine organische Ursache, zum Beispiel einen Herzinfarkt, konnten die nicht feststellen. Sie sprachen von einer Panikattacke. Fragten, ob ich Stress hätte, zu viel arbeiten würde.“

 

Wenn der Körper streikt

In der Tat, Stress hatte Oliver zur Genüge. „Ich habe Tag und Nacht gearbeitet und doch immer das Gefühl gehabt, ich komme nicht hinterher.“ Verletzungen und Vertrauensbruch von Seiten der Betriebsführung kamen hinzu. Doch Oliver kam nicht darauf, Grenzen zu ziehen. Seine Lösung war: „Mehr desselben“. Noch längere Arbeitszeiten, dazu Erreichbarkeit rund um die Uhr – bis der Körper streikte.

 

Nach einer erneuten Einweisung durch den Notarzt wurde er krankgeschrieben. Das erste Mal überhaupt. Eine psychosomatische Kur schloss sich an. Das half ihm, Abstand zu bekommen. Er dachte über Strategien nach, wie er Ausgleich finden kann. In der Kur wurde viel von „Achtsamkeit“ gesprochen. Dazu gehört es, Grenzen zu ziehen und zu fragen: Was tut mir gut?

 

Oliver wird klar: „So wie bisher geht es nicht weiter. Ich muss etwas ändern.“ Aber wie kann er sich entlasten? Er entschließt sich, zu kündigen und nach einer neuen Arbeit Ausschau zu halten, bei der er weniger Verantwortung und mehr Zeit für sich und seine Familie haben würde. Diese Arbeit findet er auch bald.

 

Perfektionistische Ansprüche runterfahren

In weiteren Therapiestunden sprechen wir darüber, was jetzt wichtig ist, damit er nicht wieder in die alte Verhaltensweise gerät. Wo muss er von Anfang an Grenzen setzen und diese auch verteidigen? Oliver will lernen, mehr zu delegieren. Es fällt ihm nicht leicht, anderen Verantwortung abzugeben und sie dann auch dort zu lassen. Das bedeutet nämlich für ihn, an seinen perfektionistischen Ansprüchen zu arbeiten. Sich und den Mitmenschen Fehler zuzugestehen. Barmherzig mit sich und anderen umzugehen. Sich nicht über Fehler zu zermürben, sondern sie, wenn möglich, als sunk costs einzuordnen.

 

Sunk costs, ein Begriff in der Wirtschaft: Da hat etwa jemand Geld ausgegeben, überflüssig, falsch, umsonst, und es kann nichts mehr daran geändert werden. Das zentrale Merkmal von diesen sunk costs ist, dass sie in der Gegenwart und in der Zukunft nicht mehr beeinflusst werden können, daher heißen sie „versunken“. Es hat also keinen Sinn, weiter darüber zu grübeln, sich zu ärgern und Kraft hineinzustecken. Man muss sich damit abfinden und nach vorne sehen.

 

80 Prozent – und gut

Oliver lernt außerdem: Er muss nicht immer 100 Prozent oder mehr schaffen. Das erfordert meist ungeheuren Einsatz. Aus Managerkursen kennt er das Pareto-Prinzip: Mit 20 Prozent Einsatz schafft man in der Regel 80 Prozent der Arbeit. Man ist motiviert, schnell, kann zügig eins nach dem anderen erledigen. Man erlebt eine hohe Selbstwirksamkeit und ist zufrieden. Für die restlichen 20 Prozent der Arbeit dagegen benötigt man 80 Prozent Energie. Man kommt nur mühsam in kleinen Schritten voran und braucht dafür viel Kraft. Oliver beschließt, sich in Zukunft jede Woche einen Tag zu gönnen, an dem er sich mit 80 Prozent des Erreichten zufriedengibt. Und zwar mit gutem Gewissen.

 

Seit einiger Zeit macht er mehrmals die Woche nach Feierabend eine Radtour. Draußen in der Natur hat er das Gefühl, frei durchatmen zu können. Ab 18 Uhr abends geht er nicht mehr an seine E-Mails. Seine Erreichbarkeit hat er auf neun Stunden reduziert. Im Urlaub war er früher immer erreichbar für seine Firma. Jetzt vereinbart er mit der neuen Firma feste Zeiten, an denen sie ihn im Notfall kontaktieren können. In der übrigen Zeit ist sein Diensthandy ausgeschaltet.

 

Olivers Körper musste erst Klartext reden, ehe er darauf kam, Grenzen zu ziehen. Was dabei hilft, sind wenige einfache Regeln.

  1. Delegiere Aufgaben und gib Zuständigkeiten ab. Du musst nicht allein für alles verantwortlich sein.
  2. Erlaube dir und anderen Fehler zu machen. Stufe sie wenn möglich als sunk costs Fehler gehören zum Leben, und oft lernt man durch sie am meisten.
  3. Arbeite nicht jeden Tag 120 Prozent, denn du wirst damit kaum mehr erreichen, als wenn du nur 80 Prozent arbeitest. Gönn dir mindestens einen Tag in der Woche, an dem du dich mit 80 Prozent zufriedengibst.
  4. Begrenze die Zeit, in der du erreichbar bist, und halte diese Zeiten fest ein. Zum Beispiel: Von Samstagmittag bis Montagmorgen ist das Diensthandy ausgeschaltet.

 

Feste Zeiten ohne Diensthandy

Meine Freundin ist Top-Juristin in einem großen Versicherungsunternehmen. Sie frühstückt morgens mit der Familie, aber abends kommt sie oft erst um 22 Uhr nach Hause. Sie liebt ihren Beruf. Nach der Geburt der beiden Kinder ist sie sofort wieder voll arbeiten gegangen. Solange die Kinder klein waren, benötigte sie zeitweise zwei Kinderfrauen, weil eine ihre Arbeitszeiten und die ihres Mannes nicht abdecken konnte. Aber ab Freitagnachmittag ist das Diensthandy meiner Freundin konsequent ausgeschaltet. Dann fahren sie und ihr Mann mit den Kindern in ihr Wochenendhaus aufs Land und sind nur für die Familie da. Erst am Montagmorgen guckt sie wieder in ihre Nachrichten und Mails. Das funktioniert nun schon seit mehr als 20 Jahren so.

 

Nicht mit mir

Manchmal jedoch ist nicht viel Arbeit der größte Stressfaktor, sondern unsachliche Angriffe durch Mitmenschen. Führungskräfte stehen oft in der Öffentlichkeit, und einige werden ganz schön angegangen. Wie kann man da seine Grenzen schützen?

Claudia ist Bürgermeisterin in einer Kleinstadt. Sie macht einen guten Job, ist gut strukturiert und kompetent. Sie holt sich Fachleute ins Boot, wo sie sie braucht. An den Menschen und ihren Sorgen zeigt sie Interesse, sie bindet viele mit ein und entwickelt mit ihnen gemeinsam Ideen um den Ort voranzubringen. Ihre Arbeit macht ihr Freude. Sie ist beliebt und geachtet. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die sie anfeinden. Wie geht sie damit um?

„Neulich“, so erzählt sie, „kam ein Mann in mein Büro und schrie mich gleich an, total aggressiv. Da bin ich einfach aufgestanden und habe gesagt: ‚Entweder Sie reden ab jetzt in einem höflichen Ton mit mir, oder ich verlasse dieses Zimmer.‘ Der Mann war vollkommen irritiert. Er wurde auf einmal ganz verlegen. Wir konnten dann ein kontroverses, aber doch sachliches Gespräch führen.“

 

Was für eine professionelle und selbstbewusste Reaktion. Claudia hat sich nicht provozieren lassen, sondern sich sofort entschieden abgegrenzt: Nicht mit mir! Um diese Haltung zu vermitteln, reichen einfache Methoden.

 

  1. Schon Aufstehen ist ein Signal: Stopp! Du machst mich nicht klein.
  2. Dazu eine entschlossene Ansage. Ein einziger Satz! Der aber klar und unmissverständlich: Du betrittst hier meinen Bereich. Und hier wird zu meinen Bedingungen gespielt.
  3. Sag in positiven Formulierungen, was du willst: „Rede höflich mit mir!“ – Da steckt viel mehr Kraft drin, als wenn du sagst, was du nicht willst („Schrei mich nicht an!“).
  4. Lass dich nicht auf einen Machtkampf ein und gib es dem anderen deutlich zu verstehen: „Falls du es darauf anlegst, werde ich das Schlachtfeld verlassen.“
  5. Schlag nicht die Tür zu, lass deinem Gegenüber die Wahl. Der spürt genau, dass du es ernst meinst. Gib ihm die Chance einzulenken.

 

Jesus hat Grenzen

Übrigens: Auch Jesus hat Grenzen gesetzt. Er war eine sehr bekannte Persönlichkeit, ein charismatischer Redner mit vielen Followern, ein echter VIP. Viele Leute wollten was von ihm, dass er sie heilt, mit ihnen spricht, er war ständig belagert. Es gab immer was zu tun für ihn, denn die Not der Menschen nahm ja nie ein Ende. Aber manchmal ist Jesus einfach verschwunden. Hat sich zurückgezogen, brauchte seine Ruhe. Ist dann etwa ganz alleine auf einen Berg gegangen, um zu beten. Beriet sich mit Gott, sondierte seinen Auftrag, sammelte Kraft, um sich den Herausforderungen wieder mit Schwung und Scharfsinn zu stellen.

Jesus hat Grenzen, um wie viel mehr also wir. Vor einer Bar in Bozen sahen mein Mann und ich ein Schild mit dem Spruch:

 

„Gott existiert –

aber das bist nicht du.

Entspann dich.“

 

 

 

 

Luitgardis Parasie ist Pastorin in Northeim und Familientherapeutin. Beim NDR arbeitet sie in der Reihe „Zwischentöne“ mit. Sie ist verheiratet mit dem Allgemeinmediziner und Psychotherapeuten Dr. Jost Wetter-Parasie, mit dem sie mehrere Bücher zu Beratungsthemen geschrieben hat. Das Ehepaar hat drei erwachsene Kinder und drei Enkelinnen.

  

Infos zum BUch:
Luitgardis Parasie und Dr. Jost Wetter-Parasie: Mutig Grenzen setzen mit gutem Gewissen. 144 Seiten, 12 Euro. Brunnen (Gießen) 2022