Eine Führungskraft, die sich nicht zuerst als „Boss“, sondern als Unterstützer des Teams versteht – dieses Konzept heißt in der modernen Managementliteratur „Servant Leadership“ und geht über einige Umwege auf Jesus Christus zurück. Überraschenderweise hat der Schriftsteller Hermann Hesse einen entscheidenden Anstoß dazu gegeben.

Von Michael vom Ende

Seit den 1970er-Jahren gibt es ein in der Wirtschaft in den USA entwickeltes Leitungsmodell, Servant Leadership. In Deutschland ist es eher unter „Dienende Führung“ oder auch „Führen durch Dienen“ bekannt, hat sich aber aus verschiedenen Gründen bis heute nicht wirklich durchgesetzt.

Es lohnt sich dennoch, sich damit zu beschäftigen. Wer nachforscht, wie das Modell entstanden ist, stößt auf einen ganz erstaunlichen Weg. In Kurzform: „Dienende Führung“ beruht auf dem Konzept „Servant Leadership“ des US-Amerikaners Robert Greenleaf. Der las und zitierte Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“. Hesse wiederum zitierte darin aus dem Johannes-Evangelium, Kapitel 3, Vers 30. Und dieser Johannes weist auf den „Diener aller Diener“, von dem wir lernen können: Jesus Christus. Doch nun Schritt für Schritt.

Hermann Hesse

1930 schrieb der deutsche Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse seine Novelle „Die Morgenlandfahrt“. Darin begibt sich der „Bund der Morgenlandfahrer“, bestehend aus Geistern der Vergangenheit und Menschen der Gegenwart, auf eine geheimnisvolle Wallfahrt in ein Morgenland, auf der alle Teilnehmer zu einer geistigen Gemeinschaft zusammenwachsen. Eine besondere Rolle spielt der plötzlich auftauchende Leo, der durch seine bescheidene Art die Herzen aller gewinnt. Leo verschwindet eines Tages, und die Reisenden verlieren Zuversicht und Glauben. Die Gruppe fällt im Streit auseinander. Auch geht die „Bundessatzung“ verloren, die der Erzähler dann sucht. Letztlich findet er Leo wieder, der sich nach einiger Zeit der Verzweiflung und Reue des Suchenden als der Oberste des Bundes zu erkennen gibt.

Der Erzähler wird nach Bekunden seiner Reue wieder in den Bund aufgenommen, wenn er es fertigbringt, das Archiv nach seiner eigenen Person zu befragen. Er erfährt, dass er selbst sich von der Gruppe seinerzeit gelöst hat und findet im Archiv eine Doppelskulptur, die Leo und ihn darstellt. Dabei wird ein seltsames Phänomen deutlich. In der Skulptur rinnt die Substanz des „Suchenden“ in das Bild von Leo hinüber, verbunden mit dem Hinweis: „Er musste wachsen, ich abnehmen.“

Robert Greenleaf

Der US-Amerikaner Robert Greenleaf (1904 – 1990) arbeitete mehr als 40 Jahre im Kommunikationsunternehmen AT&T. Lange forschte er in den Bereichen Management, Entwicklung und Bildung. Er stellte dabei fest, dass der in US-amerikanischen Institutionen vorherrschende machtzentrierte, autoritäre Führungsstil nicht funktionierte, und gründete 1964 dazu ein sechs Jahre später in „Greenleaf Center for Servant Leadership“ umbenanntes Institut. Wie kam es zu dem neuen Namen? Er wurde 1970 nach der Lektüre der Schrift von Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“ animiert, über die Bedeutung des „Servant Leader“ („dienender Leiter“) für eine Gruppe von Menschen, in welcher Organisation auch immer, nachzudenken.

Peter Drucker

2018 fand in Heidelberg ein wissenschaftliches Symposium statt, bei dem man das Modell von Robert Greenleaf säkularisieren, vom „religiösen und missionarischem Eifer befreien und so an die europäische Kulturtradition anschlussfähig machen“ wollte.

In der Einladung stand ein erhellendes Zitat von Peter Drucker, dem Pionier der modernen Managementlehre: „Greenleaf blickte auf eine äußerst erfolgreiche Management-Karriere in einem großen US-Konzern zurück, als ihm die ‚Morgenlandfahrt‘ von Hermann Hesse in die Hände fiel. Fasziniert von der Parabel eines Dieners, der mit unsichtbarer Hand das Geschick einer illustren Reisegesellschaft lenkte und dessen plötzliche Abwesenheit die Gruppe in existenzielle Nöte brachte, reflektierte er seine eigene Karriere. Er entwickelte Ideen, die er in dem Gedankengebäude des ‚Servant Leadership‘ zusammenfasste. Es basiert in seiner Weiterentwicklung auf der Erfahrung, dass Bescheidenheit, Demut und Authentizität sowie persönlicher Mut, Versöhnlichkeit und Verantwortung die Grundlagen eines dauerhaften Führungserfolges zum Wohle der meisten Organisationen und aller Beteiligten darstellen.“

Johannes

Lesen wir das Bibelzitat, das Hesse und dann auch Greenleaf inspirierte, im Zusammenhang. Im Johannes-Evangelium heißt es (Kap. 3, Verse 22-31):
Danach kam Jesus mit seinen Jüngern in das Land Judäa und blieb dort eine Weile mit ihnen und taufte. Aber auch Johannes taufte in Änon, nahe bei Salim, denn es war da viel Wasser; und sie kamen und ließen sich taufen. Johannes war ja noch nicht ins Gefängnis geworfen. Da erhob sich ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Rabbi, der bei dir war jenseits des Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm. Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, ist über allen.

Johannes der Täufer kennt seine Rolle und seine Aufgabe – und nimmt beides an. Er verweist auf einen Größeren – und zeigt sich realistisch im Blick auf sich selbst. Er versteht sich als Haushalter – und erweist sich als verlässlich. Er schafft für alle den „großen Blick“ – als Diener auf den „Diener der Diener“, Jesus Christus. Er tut das mit den Worten „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Jesus Christus

Die geheimnisvolle Doppelskulptur in der „Morgenlandfahrt“ mit dem beigefügten Satz: „Er musste wachsen, ich abnehmen.“ war für Greenleaf der eindeutige Hinweis auf den Ausspruch von Johannes dem Täufer „Illum oportet crescere me autem minuere“ (Jener muss wachsen, ich abnehmen.), wie er auf dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald mit dem deutlichen Fingerhinweis auf den gekreuzigten Jesus dargestellt ist. Deshalb kann, ja muss man die Ideen des „Servant Leaders“, wie Greenleaf sie ausformulierte, als eine praktische Aufforderung zur Nachahmung von Jesus Christus im Berufsalltag verstehen.

Zum Autor:

Michael vom Ende (62) hat nach kaufmännischer Ausbildung in der Stahlindustrie in die Theologie gewechselt. Nach dem Studium an der heutigen Evangelischen Hochschule Tabor war er als Pastor in Frankfurt/M. und Marburg aktiv, bevor er in die Kommunikation der Marburger Mission und als Kommunikationschef und Pressesprecher bei ERF Medien einstieg. Nach 16 Jahren dort wechselte er auf Anfrage in die Geschäftsführung von faktor c,
einer Initiative von Christen in der Wirtschaft (www.faktor-c.org).