Sie ist eine Frau der Wirtschaft, der Politik und der Kirche: Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) leitet seit 2016 das Wirtschaftsressort in der baden-württembergischen grünschwarzen Landesregierung. Zwölf Jahre lang arbeitete sie im evangelischen Kirchengemeinderat in Balingen (Zollernalbkreis) mit, derzeit gehört sie dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags an. Im Interview mit Marcus Mockler erläutert sie, warum die Wirtschaft Religion braucht und wie sich die Kirchen reformieren sollten.

 

Frau Ministerin Hoffmeister-Kraut, braucht die Wirtschaft Religion, braucht sie christliche Werte?

Christlicher Glaube und Religion bereichern die Wirtschaft. Der in Deutschland sprichwörtliche ehrbare Kaufmann ist geprägt vom christlichen Menschenbild. Ich selbst versuche in meinem Alltag und in meinen Entscheidungen, nach christlichen Werten zu leben: Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Integrität. Das tun bis heute viele Menschen. Es gibt weiterhin in der Gesellschaft eine enge Verschränkung mit dem christlichen Glauben.

 

Vorletzte Dinge

 

Was heißt das für Sie konkret?

Ich bin ein gläubiger Mensch, und der Glaube hat mir in Krisen Halt gegeben. Für wichtig halte ich Demut. Ich mache keine Politik über die Köpfe der Menschen hinweg. Als meine Aufgabe sehe ich es an, Politik für die Menschen zu machen. Der frühere Ministerpräsident Erwin Teufel hat immer so schön gesagt: In der Politik geht es nur um die vorletzten Dinge. Dessen muss man sich immer wieder bewusst sein. Da darf man sich selber nicht so wichtig nehmen.

 

Auf dem Foto zu Ihrem Lebenslauf auf der Internetseite des Ministeriums tragen Sie an Ihrer Halskette ein Kreuz, heute im Interview ebenfalls. Ein Bekenntnis?

Diese Kette trage ich ganz oft. Das Kreuz gibt mir Halt, Stärke, Kraft, auch in schwierigeren Zeiten. Ich bete auch jeden Abend. Mein Vater hat immer die Herrnhuter Tageslosung morgens gelesen – je einen Bibelvers aus Altem und Neuem Testament. Es tut schon gut, wenn man morgens für einen stillen Moment in sich kehren kann. Tagsüber ist man ja ständig gefordert und aktiv.

 

Kirche leistet staatliche Aufgaben

 

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation der Kirchen?

Ich bedaure es sehr, dass sich so viele Menschen von der Kirche abwenden. Die Kirche macht ja weit mehr, als nur über den Glauben zu predigen – was natürlich wichtig ist, denn das ist der Ursprung des Handelns. Sie kümmert sich um Nächstenliebe, hilft den Menschen. Sie bietet Seelsorge an und leistet teilweise staatliche Aufgaben in der Beratung oder bei der Kinderbetreuung.

 

Wenn die Kirchen schwächer werden, ändert sich dann die Gesellschaft?

Ich beobachte eine sich ausbreitende Mentalität, die nicht mehr das große Ganze und die Gemeinschaft sieht, sondern nur noch den eigenen Hinterhof. Wenn Menschen beispielsweise Wohngebiete verhindern, weil sie nicht wollen, dass direkt neben ihnen, neben dem eigenen Haus, gebaut wird. Dabei brauchen die anderen auch Wohnraum. Oder man sagt: Klar, wir sind für erneuerbare Energien, aber bitte kein Windrad in der Nähe meines Hauses. Die Bibel lehrt, dass man nur als Gemeinschaft stark sein kann. Die Zehn Gebote waren eine Art Grundgesetz. Wie gehen wir miteinander um? Wie funktioniert das Zusammenleben? Das wieder stärker zu befolgen, würde der Gesellschaft guttun.

 

Wenn der Chef vor der AfD warnt

 

Die Kirchen der Reformation haben sich sehr für Bildung starkgemacht und allgemeine Schulen, auch für Mädchen, eingerichtet. Ein Plus für die Wirtschaft?

Tatsächlich sind wir eine Bildungsgesellschaft und deshalb wirtschaftlich so erfolgreich. Unsere Stärke sind die Menschen. Qualifikation ist ein wesentlicher Standortfaktor. Das ist weiterhin ein Kriterium, warum Unternehmen in Baden-Württemberg investieren. Historisch gesehen haben die Kirchen mit ihrer Bildung dazu den Grundstein gelegt.

 

Ist es aus Ihrer Sicht ein Ausdruck von christlichen Werten, vor der Wahl der AfD zu warnen, wie das der Unternehmer Reinhold Würth in einem Brief an die 27.000 Mitarbeiter der Würth-Gruppe getan hat?

Herr Würth übernimmt Verantwortung, er macht sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes. Er nimmt die Stimmung in der Gesellschaft wahr und sieht auch die Gefahren, die daraus entstehen für die Demokratie und auch für unsere Wirtschaft.

 

Nachhaltigkeit ganzheitlich denken

 

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Kirchen und Wirtschaft heute beschreiben? Ist die Kirche noch so kapitalismuskritisch wie in den 1970er- und 1980er-Jahren?

In den aktuellen Debatten nimmt Wirtschaftskritik nicht mehr so viel Raum ein wie früher. Die Kirchen haben einen starken Schwerpunkt im Bereich der Nächstenliebe, der Menschenwürde – auch, um Menschen in Not zu helfen. Die Kirchen engagieren sich zudem stark für Nachhaltigkeit. Das begrüße ich und finde, dass man Nachhaltigkeit ganzheitlich definieren muss. Man muss den ökonomischen, den ökologischen und den sozialen Aspekt zusammen betrachten. Wenn wir uns etwa gegen den Klimawandel engagieren, was ich für sehr wichtig halte, müssen wir darauf achten, dass wir den sozialen Zusammenhalt nicht gefährden.

 

Die Kirchen haben sich immer wieder auf die Seite der Arbeitnehmer gestellt und beispielsweise Entlassungen kritisiert …

Wenn ein Unternehmer Menschen entlassen muss, ist das für die Betroffenen natürlich schlimm. Auf der anderen Seite kann das helfen, einer Vielzahl von Mitarbeitern den Job zu sichern und vielen Familien eine Zukunft zu bieten. Deshalb sollte man solche unternehmerischen Entscheidungen nicht vorschnell kritisieren. Kein Unternehmer macht es sich da leicht.

 

Trotzdem geraten durch Unternehmer-Entscheidungen auch Menschen unter die Räder…

Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Hier gilt der Grundsatz: Die Starken helfen den Schwachen. Auch beim Streit ums Bürgergeld ist doch klar, dass die, die in unserer Gesellschaft schwach sind, unsere Solidarität erhalten. Wir wollen diesen Menschen helfen, auch finanziell. Aber es gilt auch ein weiterer Grundsatz: Wer arbeiten kann, soll auch wieder in Arbeit. Daher müssen die richtigen Anreize gesetzt werden.

 

Wirtschaft auf dem Kirchentag

 

Sie sind im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Wünschen Sie sich einen wirtschaftsfreundlicheren Kirchentag?

Im Grunde Ja. Zu Wirtschaft und Arbeit soll es beim nächsten Kirchentag 2025 in Hannover thematische Schwerpunkte geben.

 

Da Sie auch als Kirchengemeinderätin engagiert waren: Was sollte die Kirche von der Wirtschaft lernen – gerade in Zeiten schwindender Mitglieder und zurückgehender Finanzen?

Das System von Wirtschaft und Märkten ist natürlich etwas anderes als das System der Kirche. Aber sicher muss sich die Kirche öffnen, flexibler werden in ihren Angeboten – auch bei den Kanälen, mit denen man die Menschen erreicht. Andererseits weiß ich, dass schon enorm viel passiert. Es gibt ja schon kirchliche Influencer in den sozialen Medien. Gerade in so bewegten Zeiten, wie wir sie im Moment haben, könnten sich Menschen wieder auf das Grundsätzliche besinnen. Dazu sollte sich die Kirche auf ihre Kernaufgabe, die Vermittlung des Glaubens, konzentrieren – und das angepasst auf die heutige Zeit. Vielleicht wäre es mal interessant, einen After-Work-Gottesdienst anzubieten. Anstatt nach der Arbeit gemeinsam etwas trinken zu gehen, könnte man zu einem coolen Event gehen und über den Glauben sprechen. Trivial ist es jedenfalls nicht, die Menschen an sich zu binden.

 

Menschen mehr beteiligen

 

Wo sehen Sie Reformbedarf?

Die Kirche hat teilweise festgefahrene Strukturen. Diese sollte man aufbrechen. Aus meiner Sicht braucht es zum Beispiel mehr Beteiligung der Menschen und das Bemühen, sie mitzunehmen. Und dass sie mehr gestalten dürfen. Manchmal ist das, was ein Kirchengemeinderat entscheiden darf, schon sehr kleinteilig.

 

Brauchen kirchliche Gremien Leute aus der Wirtschaft?

Wirtschaftliches Denken wird in verschiedenen Bereichen der Kirche wichtiger. Angefangen beim Umgang mit Immobilien über den Auftritt nach außen, was Wirtschaftsleute als Marketing bezeichnen würden, bis hin zu diakonischen Einrichtungen, die ganz klar wirtschaftlich arbeiten müssen.
epd

 

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