Wie geht es Deutschland? Die Wissenschaftler vom Rheingold-Institut haben den Menschen im Land den Puls gefühlt und kommen zu teilweise dramatischen Ergebnissen. Das Vertrauen in die Politik ist ebenso verlorengegangen wie in die wirtschaftliche Zukunft. Das dürfte das Leben für Führungskräfte (noch) härter machen.

 

Von Marcus Mockler

 

„Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ – so überschreibt das Kölner Rheingold-Institut seine Ende Juli vorgestellte Studie über das Befinden der Menschen in Deutschland. Die aus repräsentativen Umfragen und Tiefeninterviews gewonnenen Zahlen haben es in sich. Sie zeichnen ein Bild von einer Gesellschaft, die von Ängsten geplagt ist, die eine gemeinsame Vision verloren hat und die sich bis hin zur Realitätsverweigerung ins Private zurückzieht. Dabei wird die Corona-Pandemie als „Ausgangspunkt einer Kaskade von Krisen erlebt“, wie es in der Studie heißt.

 

Die Menschen ticken an einigen Stellen anders, als man es aufgrund breiter Medienberichterstattung erwarten sollte. Am deutlichsten wird das beim Thema Klimawandel. Die Erderwärmung ist inzwischen seit Jahren das beherrschende Thema in allen Leitmedien. Treibhausgase treiben die Politik vor sicher her, die hochgekochte Debatte um das Heizungsgesetz der Ampel-Koalition in Berlin hat das besonders massiv vor Augen geführt. Um so verblüffender das Ergebnis der Rheingold-Studie: 57 Prozent der Befragten in Deutschland zählen die Sorge um einen sich aufheizenden Planeten nicht einmal zu den fünf derzeit wichtigsten Krisen.

 

Ignorant oder nur medienkritisch?

„Viele sehen sich insgeheim als Krisenprofiteure, weil beispielsweise der milde Winter dabei hilft, Heizkosten zu sparen“, heißt es in der Auswertung. Und: Viele hegten zudem die Hoffnung, der vollen Wucht der Klimakrise doch noch entkommen zu können. Vielleicht ist es aber auch ganz anders, und die Menschen misstrauen einer Berichterstattung, die sich in nicht endenden Superlativen überschlägt. Die Bereitschaft vieler Bürger, sich über die Nachrichtenlage zu informieren, lasse ohnehin nach, heißt es in der Studie weiter.

Gerade der Sommer in diesem Jahr dürfte in Deutschland – anders als in anderen Regionen der Welt – als eher normal in die Geschichte der Wetteraufzeichnung eingehen. Und die Antwort auf die Frage, inwiefern ein radikaler Weg des kleinen Deutschland in einer globalisierten Welt wirklich Einfluss aufs Klima nehmen kann, bleibt vage, zumal das Land mit dem Abschalten der Atomkraftwerke unterm Strich erstmal den Kohlendioxidausstoß erhöht hat.

Nein, die Deutschen haben andere Ängste. Noch vor dem Klimawandel, der 43 Prozent ängstigt, stehen die Inflation (51 Prozent) und die Altersarmut (46 Prozent). Auch bezahlbarer Wohnraum (41 Prozent) und Energiekosten (41 Prozent) rangieren in der Liste weit oben. Die Themen zeigen in eine klare Richtung: Die Sorge um den eigenen Lebensstandard dominiert. Werde ich mir das (gute) Leben, das ich im Moment habe, künftig noch leisten können?

 

Hartes Urteil über die Politik

 

Die deutsche Wirtschaft schrumpft – im Gegensatz zu den Wirtschaften aller anderen Industrienationen. Schleichend geht der Glaube an den Wirtschaftsstandort Deutschland verloren. Fachkräftemangel, Bürokratie, hohe Lohn- und Energiekosten lassen Unternehmer zunehmend Produktionsstandorte im Ausland suchen. Gleichzeitig steht das Land vor immensen Herausforderungen, etwa bei der Integration von Millionen von Flüchtlingen. Wer soll das bezahlen? Und wie verändert sich die Gesellschaft durch die Zuwanderung so vieler Menschen aus anderen Kulturkreisen?

Es gibt also auch jenseits der Klimakrise ausreichend Anlass zur Sorge. Die Politik macht nicht glaubhaft, dass sie die Themen wirkungsvoll anpackt. Nur jeder dritte Befragte vertraut der Bundesregierung. Drei Viertel der 18- bis 65-Jährigen leben nach eigenem Bekunden in dem Gefühl, „dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun“ Das ist ein niederschmetterndes Ergebnis nicht nur für die Ampel, sondern insgesamt für die Demokratie, auch wenn 83 Prozent die Demokratie weiterhin für die „beste Lösung“ halten.

 

Goldene Zeiten für Baumärkte und Reiseportale

Und wie reagieren die Menschen in Deutschland auf ihre düsteren Wahrnehmungen? Mit einem Rückzug ins Private. Sie schaffen sich der Studie zufolge Wohlfühl-Oasen, indem sie ihr Zuhause fortwährend verschönern und ihre Freizeit im Urlaub oder in der Natur genießen. Goldene Zeiten für Baumärkte und Reiseportale.

Auch die sozialen Netze werden wieder enger geknüpft. Für 84 Prozent hat das Miteinander mit Freunden und Familie an Bedeutung gewonnen. Ein unschöner Nebeneffekt dabei ist laut der Untersuchung, dass sich Gemeinschaften zunehmend abgrenzen und anstrengende Andersdenkende aussortieren. Auch das kann ein Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft sein, wie sie sich seit der Corona-Pandemie und schon länger in der Frage des Asylrechts zeigt.

 

Rückzug und Ablasshandel

Die Autoren der Studie, Paul J. Kohtes und Stephan Grünewald, entdecken einen Trend zu einer „passiv-resignativen Haltung“. Viele Menschen erwarteten, dass sich die gewaltigen Probleme durch Fortschritte in Künstlicher Intelligenz, Medizin und Technologien schon irgendwie lösen ließen. Auch hofften sie auf eine „rettende Instanz“, durch die Sündenböcke stigmatisiert und Negatives abgewendet werde. Daraus entstünden allerdings mitunter ein empörter Aktivismus und die Bildung von Verschwörungserzählungen.

Interessanterweise beobachten die Wissenschaftler auch eine moderne Form des Ablasshandels. Manche halten bereits die Erfüllung ihres Arbeitsvertrags und die Bezahlung von Steuern für ausreichend, um ihre Zukunftsschuldigkeit getan zu haben. Andere glauben, durch den Verzicht auf Fleisch und den Umstieg aufs Fahrrad den Weltkrisen wenigstens ein bisschen trotzen zu können.

Die häufigste Strategie ist aber das Abtauchen. Serien auf Netflix oder Videos auf TikTok hätten „betäubenden, tröstenden Charakter“, urteilt die Studie. Das fördere eher die Selbstbespiegelung als den Perspektivwechsel. Und es stabilisiere „die Realitätsverdrängung und die Minimierung des Gesichtskreises“.

 

Studie als Momentaufnahme

Bei aller Wucht, die die Rheingold-Studie hat, bleibt sie dennoch eine Momentaufnahme. Wahrnehmungen können sich in einer Gesellschaft schnell ändern – in die eine wie in die andere Richtung. Deutschland hat gerade nach 2015, als die Flüchtlingszahlen in die Höhe schossen, ganz überwiegend Solidarität gezeigt. Unzählige haben sich ehrenamtlich für die Asylsuchenden starkgemacht. Und Menschen, die vor den Attacken Russlands auf die Ukraine flohen, wurden massenhaft vorübergehend in Privatwohnungen aufgenommen. Der Gedanke einer Nächstenliebe, die auch für den Fremden da ist, lebt. Er könnte aber auch kippen, wenn sich eine Gesellschaft überfordert fühlt. Das Umfragehoch der AfD hängt gewiss mit dem Gefühl zusammen, dass die Regierenden die wachsenden Probleme nicht mehr in den Griff bekommen.

 

Drei Herausforderungen

 

Für Christen in der Wirtschaft ist die Diagnose der Rheingold-Studie mindestens dreifach herausfordernd.

 

  1. Das Umfeld für Unternehmer wird rauer.

Die meisten spüren es bereits. Aufträge sind vielleicht noch da, aber es wird schwieriger, die richtigen Leute zu finden, die sie abarbeiten. Eine nachwachsende Generation hat häufig auch andere Vorstellungen vom (Arbeits-)Leben, fordert Ausgewogenheit zwischen Beruf und Freizeit. Die Leidenschaft, sich für die Firma aufzuopfern, ist seltener geworden. Das hat vielleicht sogar gute Gründe, macht die Bewältigung einer Wirtschaftskrise aber nicht einfacher. Gepaart mit allgemeinen Kostensteigerungen, Bürokratie und staatlichen Vorgaben etwa in Energiefragen, bedeutet das für Führungskräfte: Sie müssen in der kommenden Zeit eher mehr arbeiten als weniger, wenn sie ihre Organisation in eine gute Zukunft führen wollen.

 

  1. Soziale Netze brauchen Stärkung

Wenn das soziale Netz des Staates reißt, gewinnen private soziale Netze wieder an Bedeutung. Worauf kann man bauen, wenn dem Sozialstaat seine Leistungsfähigkeit abhandenkommt? Es sind die engeren Netze. Ehe und Familie natürlich zuerst. Die gegenseitige Übernahme von Verantwortung zwischen Verheirateten und den Generationen ist unterm Strich stabiler als jedes staatliche System. Und diese Stabilität gilt es zu stärken. Was Ehen hilft, hilft den Ehepartnern. Und es hilft den Kindern. Und es hilft, Eltern, Schwiegereltern, Enkeln. Die Rede von der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ ist nicht sozialromantisches Geschwätz Ewiggestriger, sondern vielleicht der wichtigste Baustein für unsere Zukunft.

Für manche muss es ohne Familie gehen. Auch andere soziale Netze können viel leisten. Christliche Gemeinden etwa, Vereine oder auch Regionalgruppen wie bei „faktor c“. Eine zunehmende Zahl von Senioren entscheidet sich für das Leben in einer Wohngemeinschaft unter Gleichgesinnten: Vorübergehende persönliche Einschränkungen werden von den anderen wettgemacht. Generell gilt: Wohl dem, der Freunde hat – und wer ein Freund ist, zeigt sich in der Not.

Im Bett der öffentlichen Wohlfahrt wird es zunehmend ungemütlich. Führungskräfte in Unternehmen, Verwaltung und Gemeinde sollten sich also immer wieder diese Frage stellen: Wie stärken wir durch unsere Arbeit Ehen und Familien? Welche Netze können wir unterstützen oder selbst knüpfen?

 

  1. Am Gemeinwohl festhalten

Der Rückzug ins Private ist für Christen keine Option. Auch wenn sie den engen Verbund etwa in der Familie und in der christlichen Gemeinschaft hochhalten: Am Ende denken sie nicht nur an die eigene kleine Welt, sondern an „alle Welt“. Christen sollten Vorreiter werden und bleiben, wenn es um die Gemeinwohlökonomie geht – also um wirtschaftliches Handeln, das nicht nur der eigenen Organisation, sondern einem breiteren Kreis nutzt. Engagement für die Menschen am eigenen Ort und sogar für Menschen auf anderen Kontinenten darf nicht auf der Strecke bleiben. Es gibt immer noch Milliarden Erdenbewohner, die gerne unsere Probleme hätten, weil ihre persönlichen viel gravierender sind. Natürlich hat der eigene Betrieb Priorität. Geht der kaputt, kann er auch niemandem mehr helfen. Aber sobald schwarze Zahlen dastehen, sollten auch andere davon profitieren.

 

Das Leitmotiv in dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation bleibt Gottvertrauen – in guten wie in schlechten Zeiten. Die biblische Jahreslosung als Leitvers über 2023, „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13), macht Mut, die hereinbrechenden Probleme mit himmlischer Hilfe anzupacken.

 

 

Internet: https://www.rheingold-marktforschung.de/gesellschaft/deutschland-auf-der-flucht-vor-der-wirklichkeit/

 

 

Marcus Mockler, Jahrgang 1965, ist Redaktionsleiter des Magazins „faktor c“. Hauptberuflich arbeitet er als Chefredakteur und Geschäftsführer der Nachrichtenagentur epd in Baden-Württemberg. Der verheiratete Vater von acht Kindern engagiert sich mit seiner Frau für die Stärkung von Ehen und ist Laienprediger in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.