Von Johannes Hartl
Menschenrechtsorganisationen bezeichnen die Einzelhaft als Folter. Ein Gefangener, der über längere Zeit hinweg von anderen isoliert wird, kann Störungen seiner Organfunktionen, des Hormonhaushalts oder des Körpergefühls erleiden und sogar die Fähigkeit zu sprechen verlieren. Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren unter anderem in der Komplexität unseres Sozialverhaltens. Was wir denken, tun, erstreben, hat in höchstem Maße mit anderen Menschen zu tun. Damit, was sie denken, wollen, fühlen. Tatsächlich ist unser hoch entwickeltes Gehirn kein Computer, sondern ein Beziehungsorgan. Damit dieses heranwachsen kann, braucht bereits das kleine Kind intensiven sozialen Kontakt. Das hat seinen Preis.
Gehirn ist „Beziehungsorgan“
Während ein Elefantenbaby schon kurz nach der Geburt herumlaufen kann, bleibt ein neugeborener Mensch viele Monate lang extrem abhängig. In den ersten Lebensjahren erlernt er nicht nur die wichtigsten Konzepte über sich selbst und die Welt, sondern die hohe Kunst der Interaktion mit anderen Menschen. Denn bis zu seinem Lebensende wird für sein Wohlbefinden dies genauso wichtig sein wie die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse: das Gelingen der engsten Beziehungen. Gesund und glücklich kann ein Mensch nur sein, wenn er in Verbundenheit lebt. Wie wichtig das tatsächlich ist, wissen viele Menschen nicht. Ganz im Gegenteil zu anderen Themen der Gesundheit.
Carsten kauft sich an der Tankstelle eine Schachtel Zigaretten. „Raucher sterben früher“ steht dort in großen schwarzen Lettern. Auf der anderen Seite sieht er einen halbtoten Patienten auf einem OP-Tisch. Vor dem Rauchen wird er gewarnt. Nicht jedoch von seiner Beziehungsarmut, die genauso tödlich sein kann.
Gefährlicher als Fettleibigkeit
Im Jahr 2010 erregte eine Metaanalyse weltweit Aufsehen, die den Zusammenhang zwischen Beziehungsqualität und Sterblichkeit in 148 Studien mit über 300.000 befragten Personen darstellte. Die Ergebnisse waren durchaus frappierend: Zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen die körperliche Gesundheit in ähnlichem Maße wie Ernährung, Sport oder Alkohol. Etwas plakativer: Einsamkeit ist etwa so gefährlich wie 15 Zigaretten am Tag und doppelt so gefährlich wie Fettleibigkeit.
Für die emotionale Stabilität trifft das erst recht zu. Oder wie der Titel des neuesten Buches des deutschen Hirnforschers Gerald Hüther zum selben Thema lautet: „Lieblosigkeit macht krank“. Wenn Einsamkeit tatsächlich ein unsichtbarer Killer ist, dann erstaunt, wie wenig man darüber erfährt. Tatsächlich ist der Begriff der „loneliness pandemic“, also der Pandemie der Einsamkeit, in der Forschung schon gut etabliert. Es gibt weltweit zunehmend Menschen, die sich einsam fühlen. In den deutschen Großstädten leben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen alleine als zusammen mit anderen: viele davon gegen ihren Willen. Doch ist eigentlich jeder einsam, der zufällig mit niemandem zusammenlebt? Und gibt es nicht auch gesunde Formen des Alleinseins?
„Ich heirate mich selbst“
Vor wenigen Monaten ging durch die Schlagzeilen, dass Pop-Ikone Selena Gomez geheiratet habe. Auf den glanzvollen Fotos, die sie im weißen Brautkleid zeigen, sucht man einen Gatten freilich vergeblich. Sie hatte sich selbst geheiratet. Ausdruck von Selbstliebe und Autonomie oder krankhafter Egoismus? Die Boulevardmedien jedenfalls hatten etwas zum Diskutieren gefunden.
In ihrem 2022 erschienenen Buch „Die Freiheit, allein zu sein“ wirbt die feministische Aktivistin Sarah Diehl für mehr Selbstbewusstsein in der Entscheidung, ohne Partner und Kinder das Leben verbringen zu wollen. In der sexualisierten Gesellschaft sei alles auf romantische Beziehungen ausgerichtet, und Rollenbilder für erfülltes Leben ohne Partnerschaft fehlten, so Diehl. Falls dieser Befund zutrifft, hätte Selena Gomez doch einiges richtig gemacht.
Tatsächlich fällt auf, dass es gesellschaftlich etablierte Formen des Alleinseins kaum gibt. Ob Klatschpresse oder Netflix: Dass die höchste Lebenserfüllung ganz wesentlich auch mit der romantischen Beziehung etwas zu tun habe, gehört zum kulturellen Wasser, in dem wir schwimmen. So lange schon schwimmen, dass wir das Wasser selbst nicht mehr sehen können. Wenn von einer Prominenten wie Gomez oder einer Feministin wie Diehl nun das Recht angemahnt wird, auch mit Würde alleinstehend sein zu können, so widerspricht das nur auf den ersten Blick der oben skizzierten Einsamkeitspandemie. Denn zu einer gesunden Beziehung – egal, ob romantisch oder einfacher Freundschaft – gehört die Fähigkeit, auch allein zu sein.
Flucht vor Bindung?
Das unfreiwillige, dauernde Alleinsein aber ist für den Menschen schädlich. „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft. Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein“, so brachte Dietrich Bonhoeffer das in seinem berühmten Buch „Gemeinsames Leben“ auf den Punkt. Und hier kann natürlich auch eine kritische Rückfrage an Gomez oder Diehl gewagt werden: Führt das eigene zelebrierte Alleinsein tatsächlich zur Beziehungsfähigkeit oder ist es die Flucht vor Bindung?
Dass das Alleinsein einen zutiefst sozialen Aspekt haben kann, davon kann besonders die lange Tradition der Klöster und der Einsiedler künden – beides heute im Westen vom Aussterben bedroht. Das freiwillige Alleinsein, um verfügbarer für die Stille und die Begegnung mit Gott zu sein: Wer sich schon einmal bewusst für ein paar Tage zurückgezogen hat, versteht vielleicht besser, dass bis heute auch eine gewisse Faszination vom Mönchtum ausgeht – wenn heutzutage oft auch eher von der buddhistischen Version.
Tatsächlich leben wir in äußerlich vernetzteren Zeiten als je zuvor. Wer in einer Großstadt lebt und mit den Öffentlichen fährt, kann auf seinem morgendlichen Weg in die Arbeit mehr Menschen begegnen, als ein Mensch im 17. Jahrhundert in seinem ganzen Leben getroffen hat. Der durchschnittliche Nutzer digitaler Medien ist mit Tausenden, oft sogar Zehntausenden von anderen irgendwie vernetzt. Und sei es auch nur über das Online-Game oder als Kommentator desselben Videos. Echte Verbundenheit jedoch entsteht so noch lange nicht. Sie braucht Zeit. Berührung. Verbindlichkeit. Offenheit. Dinge, die die digitale Beschleunigung allesamt eher verhindert.
Alleinsein mit Gott
Wir befinden uns also im Paradox der „kontaktreichen Beziehungsarmut“, wie der Paartherapeut Michael Lukas Moeller es ausdrückte. Die innere Einsamkeit nimmt dabei zu, und das ständige Vernetztsein verstärkt den Teufelskreis. Was also wäre die Lösung? Tatsächlich gilt es, das bewusste Alleinsein wieder zu entdecken. Würden Sie selbst gerne einen Abend mit Ihnen verbringen oder ist Ihnen das zu langweilig? Halte ich es mit mir selbst aus? Das ist eine Frage, die zum Wesentlichen führt. Sollte es Gott geben und sollte er tatsächlich in der Stille und im Innen zu finden sein, so stellt sich nur die Frage: Bin ich selbst überhaupt da oder abgelenkt und verloren an das Außen? Bin ich berührbar für ihn oder innerlich viel zu beschäftigt?
Jeder Mensch kennt die Sehnsucht. Jeder Mensch kennt die Suche nach einem Gegenüber und die Enttäuschung, dass das Gegenüber nicht da ist oder anders, als man es sich wünschte. Ja, es sollte uns umtreiben, dass es immer mehr einsame Menschen in der Gesellschaft gibt. Räume und Initiativen zu finden, die dieser riesigen Welle an innerer Not begegnen können, wird eine der großen Zukunftsaufgaben sein. Doch im Letzten kann die tiefste Sehnsucht des Menschen nach Verbundenheit und Nähe nur bei Gott gestillt werden. Je mehr wir das bei einem Menschen suchen, desto größer ist die Gefahr, dass wir die Beziehung dabei überfordern und enttäuscht und bitter zurückbleiben. Deshalb ist – gerade in Zeiten der angefochtenen Beziehungen und der Einsamkeit – das bewusste Erlernen des Alleinseins mit Gott das vielleicht wichtigste Gebot der Stunde.
Nur, wenn wir oft genug mit Gott allein sind, spüren wir, dass wir nie allein sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin GRANDIOS. Dieses Magazin richtet sich an Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen und nach dem Sinn im Leben fragen. Es will seine Leser inspirieren und herausfordern, Denkanstöße liefern und Orientierung bieten. GRANDIOS erscheint zwei Mal im Jahr und zeigt auf etwa 120 Seiten gelebte, nachhaltige, christliche Werte in der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Zum Autor:
Johannes Hartl, Jahrgang 1979, ist Bestseller-Autor, international gefragter Speaker, Philosoph und katholischer Theologe. Hartl hat das Gebetshaus in Augsburg gegründet. Mit seinen Vorträgen zu den Themen Sinn, Verbundenheit und Glaube erreicht der verheiratete Vater von vier Kindern Hunderttausende. In seinem aktuellen Buch „Eden Culture“ setzt er sich für eine „Ökologie des Herzens“ ein.